"Das Bild vom Tyrannenkind ist gefährlich"
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Der bekannte Kinderpsychiater Michael Winterhoff soll Kinder mit umstrittenen Medikamenten behandelt haben. Seine Thesen über tyrannische Kinder wurden in der Fachwelt sehr kritisch kommentiert, doch medial immer wieder verbreitet. Warum?
Nach Recherchen von WDR und Süddeutscher Zeitung hat der bekannte Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff Dutzende von Kindern, von denen die meisten in Jugendhilfe-Einrichtungen lebten, über lange Zeiträume mit umstrittenen Medikamenten behandelt.
"Laut Aussagen ehemaliger Patienten von Winterhoff mussten sie die Mittel über Jahre einnehmen, in einem Fall waren es sogar mehr als zehn Jahre. Offenbar wurden die Mittel auch in den Einrichtungen eingesetzt, um Kinder ruhigzustellen – was Winterhoff bestreitet", schreibt die Südddeutsche Zeitung. Dieser sage, er habe mit den Medikamenten "bewusst keine Sedierung" angestrebt. Die Mittel hätten die Kinder und Jugendliche in die Lage versetzen sollen, überhaupt für therapeutische Maßnahmen erreichbar zu sein.
Winterhoff ist nicht irgendein Psychiater, er hat Bestseller geschrieben, war oft zu Gast in Funk und Fernsehen und stand damit prominent in der Öffentlichkeit. Auch im Deutschlandfunk Kultur kam er zu Wort. Nun sollen seine Behandlungsmethoden umfangreich untersucht werden, das haben die Familienministerien von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen angekündigt.
Ein reiches Land mit vernachlässigten Kindern
Warum Winterhoff medial so präsent war, hat den renommierten Kinder- und Jugendpsychiater Kai von Klitzing "immer gewundert". Winterhoffs Thesen seien populärwissenschaftlich, sagt der Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Leipzig. Demnach würden Kinder zu Tyrannen, wenn sie nicht genügend Grenzen durch ihre Bezugspersonen erführen. Sie blieben dann in einer frühen Phase des Narzissmus hängen und tyrannisierten die Erwachsenen.
Von Klitzing hält das "Bild vom Tyrannenkind" für "gefährlich". Deutschland sei ein reiches Land, und dennoch würden zwischen zehn und 20 Prozent der Kinder vernachlässigt, kritisiert er. Es habe in der Wissenschaft eine sehr kritische Auseinandersetzung mit dem Denken Winterhoffs gegeben, doch diese Positionen seien medial kaum aufgegriffen worden. Das große Interesse an Winterhoff erklärt von Klitzing mit einem "kollektiven Schuldgefühl":
Schwerste Risiken für das gesamte Leben
"Ich denke, wir haben unseren Kindern gegenüber ein kollektives Schuldgefühl, und das zurecht. Wir kriegen es noch nicht mal hin, die Kinderrechte im Grundgesetz zu etablieren. Wir haben in einer reichen Gesellschaft eine Masse von in der frühen Kindheit vernachlässigten Kindern. Wir wissen, dass diese Kinder schwersten Risiken für ihr gesamtes Leben ausgesetzt sind. Das macht uns natürlich Schuldgefühle. Und wenn wir das dann plötzlich umdeuten und sagen, Kinder sind Tyrannen, dann sind wir ja fein raus. Weil: Dann müssen wir uns wehren. Das ist eine sehr bequeme These, die man gerne hört."
(ahe)