Vulkanausbruch in Guatemala

Ein Dorf wird über Nacht zum Friedhof

Rettungskräfte in dem Dorf San Miguel Los Lotes in Guatemala
Rettungskräfte in dem Dorf San Miguel Los Lotes in Guatemala nach dem der Volcán de Fuego im Juni 2018 ausgebrochen ist. © imago/Xinhua
Von Andreas Boueke |
Im Juni begrub die Lava des Volcáno de Fuego in Guatemala ein ganzes Dorf unter sich. Bis heute sind nicht alle Toten gefunden, gezählt und identifiziert. Die Kirche hilft Überlebenden beim Gedenken und beim Weiterleben.
Noemi Sicinarjai: "Der Boden hier hat schon immer ab und zu gewackelt. Damit sind wir aufgewachsen. Das hat uns keine Angst gemacht. Wir hätten nie geglaubt, dass es eines Tages zu einer solchen Katastrophe kommen würde."
Noemi Sicinarjai und ihre Familie lebten bis zum 3. Juni 2018 in dem Dorf San Miguel Los Lotes, sieben Kilometer entfernt von dem Krater des Volcáno de Fuego, des "Feuervulkans" in Guatemala. An jenem Sonntagmorgen hatte er noch seinen Schatten auf das Wellblechdach geworfen, unter dem Noemi und ihre vier Kindern frühstückten. Wenig später bedeckte er das Dach mit Lava. Noemi und ihre Kinder haben überlebt, aber, so erzählt sie, "meine Eltern, eine meiner Schwestern und ein Bruder mit ihren gesamten Familien haben es nicht mehr geschafft, zu fliehen." Auch Noemis Schwager, der Pastor Jose David Sicinajari García, ist nur knapp entkommen.
García: "Es gab drei evangelikale Kirchengemeinden in Los Lotes und drei Pastoren. Die anderen beiden sind unter der Lava begraben, zusammen mit ihren Familien und Teilen ihrer Gemeinden. Uns aber hat Gott die Möglichkeit geschenkt, weiter zu leben."

Schutz unter dem Dach der Kirche

Wer konnte, floh Richtung Süden. Das erste größere Gebäude am Straßenrand ist die katholische Kirche der Heiligen Guadalupe. Deren Dach wurde vor vier Jahren mit Unterstützung des deutschen Hilfswerks Adveniat gebaut. Damals rechnete niemand damit, dass es einmal dazu dienen würde, 400 heimatlos gewordenen Menschen Schutz zu bieten. Mildrid Pacheco vom Sozialkommittee der Pfarrei war gerade dabei, Akten zu ordnen, als die ersten Flüchtlinge in die Kirche stolperten.
Pacheco: "Zuerst kamen Autos an, voll mit weinenden und schreienden Menschen. Viele hatten Verbrennungen und waren voller Asche. Sie flehten mich an: ‚Helfen Sie mir. Ich will zurück. Ich muss wissen wo meine Tochter ist. Wo ist meine Mutter?'"
Die benachbarte Bevölkerung reagierte sofort. Innerhalb von wenigen Stunden trafen die ersten Kleider- und Lebensmittelspenden ein. Plötzlich war Mildrid Pacheco die Koordinatorin einer großen Hilfsaktion.
Pacheco: "Ich brachte einen großen Topf und bat meine Schwiegermutter um Feuerholz. Ich ließ Brot kaufen und fragte nach Kaffee. Mit der Zeit kamen Leute aus anderen Pfarreien und fragten, wie sie helfen könnten. Wir haben eine Küche eingerichtet, um die Nahrungsmittelspenden zu verarbeiten. Es war so traurig zu sehen, wie die Kinder ankamen. Ihre kleinen Gesichter waren rußschwarz und sie hatten schmerzhafte Verbrennungen an den Füßen."

Der Staat will nicht weitergraben

Sieben Stunden nach dem Vulkanausbruch im Juni, während einer abendlichen Pressekonferenz in der Hauptstadt, sagte der guatemaltekische Präsident Jimmy Morales: "Es beschämt mich, es sagen zu müssen, aber das Haushaltsgesetz erlaubt es nicht, dass wir auch nur einen Cent für solcherart Katastrophen ausgeben." Noemi ist empört: "Das waren doch keine Hunde, die da gestorben sind. Das waren Menschen wie wir."
Es beginnt zu regnen. Eilig rennen die Familien in die Kirche. Die staatliche Katastrophenschutzbehörde CONRED spricht von 305 Toten und Vermissten. Mildrid Pacheco macht diese Zahl wütend
Pacheco: "Wer weiß denn am besten, wie viele gestorben sind? Doch wohl die Menschen, die dort gelebt haben. Sie sagen zu uns: 'Wir waren 22 in meiner Familie, wir waren 16, wir waren 18.' Der Staat hat seine Statistiken von dem Stromversorger. Aber es gab viele Hütten, die keinen Wasserzähler hatten und keinen Strom. Diese Statistiken sind nichts wert."

Das Dorf soll zum Friedhof umgewidmet werden

Längst hat CONRED seine Schaufelbagger abgezogen. Der zuständige Minister argumentiert, das Graben sei zu gefährlich. Die Regierung plant, das verschüttete Dorf als Friedhof zu deklarieren.

Volcáno de Fuego in Guatemala im Juni 2018
Volcáno de Fuego in Guatemala im Juni 2018© imago/Agencia EFE
Mildrid Pacheco: "Aber jeder von uns möchte die Reste seiner Toten sehen, um sie zu betrauern und zu begraben."
Es werden auch immer noch Leichenteile gefunden, auf den Schutthalden neben der freigeräumten Bundesstraße. Denn der Staat hat zur Priorität gemacht, den Verkehr wieder zum Fließen zu bringen. In der improvisierten Leichenhalle bemühen sich Experten nun darum, die Leichenteile Personen zuzuordnen. Doch das ist schwierig, denn die Hitze der Lava hat die Körper so sehr zerstört, dass auch ein verkohlter Knochen oft nicht mehr ausreichend DNA-Informationen für eine Identifikation hergibt.

Zählen die Armen weniger?

Das Dorf Los Lotes gehörte zur Pfarrei von Pater Gerardo Salazar. Er erinnert sich an Familien, bei denen er zu Gast war, deren Kinder er getauft und verheiratet hat.
Salazar: "Die Regierung handelt entsprechend der sichtbaren Realität. Sie hat Leichen bergen lassen und sie gezählt. Aber die Zahl der Toten ist viel größer. Ich kannte die Siedlung Los Lotes gut. Wir wissen, dass dort noch sehr viele Menschen verschüttet liegen. Ganze Familien sind noch unter der Erde."
Noemis Mann Edgar ist bestürzt, dass der Staat seine toten Angehörigen nicht einmal zählt:
"Das ist würdelos. Die Menschen, die diese Situation erlebt und erlitten haben, kennen die Wahrheit. Wir wissen, dass viel mehr Personen gestorben sind, als die offiziellen Zahlen angeben. Für uns ist es schmerzhaft, solche Lügen zu hören. Aber wir sind arm. Wahrscheinlich zählt unser Leben deshalb nicht so viel."

Ein neues Leben auf einem neuen Grundstück

Nach und nach beginnen die Überlebenden, sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. "Wir konnten entkommen", sagt der sechzehnjährige Romulo, "…aber die meisten meiner Mitschüler sind gestorben. So viele Leute liegen unter der Erde. Freunde, die ich seit meiner Kindheit kannte."
Auf Grund der langjährigen Kontakte zu dem Hilfswerk Adveniat bekam der für die Region zuständige Bischof Viktor Hugo Palma Paul innerhalb weniger Tage eine größere Summe aus Deutschland überwiesen. Als deutlich wurde, dass die Spenden vor Ort für die Soforthilfe ausreichen, entschied der Bischof, die internationalen Gelder für langfristigere Projekte einzusetzen.
Bischof Paul: "Die Kirche ist auf Grund ihrer schnellen Reaktion in dieser Krise ein Ort der Hoffnung und der Glaubwürdigkeit. Deshalb stehen wir jetzt unter dem Druck, weiter zu machen. Das große Problem ist, was aus all den Leuten werden soll, die ihr Land verloren haben. Wenn die Regierung sich nicht beeilt, Lösungen zu finden, dann müssen eben wir ein Grundstück kaufen, auf dem diese Menschen leben können. Mit solchen Projekten haben wir Erfahrung. In der Vergangenheit haben wir nach Hurrikanen und Tropenstürmen immer wieder Häuser für die Betroffenen gebaut."
Der Junge Romulo ist froh, dass er vorerst in der Kirche Guadalupe unterkommen konnte. Für ihn ist klar:
"Wir können nicht mehr zurück in unser Dorf, aber wir können ein neues Leben anfangen, ganz von vorne. Wir können zur Schule gehen, neue Freunde finden und neue Menschen kennenlernen."
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