"Momente des Grauens" erlebt
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An einem Jugendaustausch in Auschwitz beteiligten sich auch in diesem Jahr VW-Auszubildende aus Zwickau. Wegen der Coronapandemie fiel die Exkursion etwas anders aus, war aber für die jungen Leute ein prägendes Erlebnis.
Seit Jahren schickt VW Auszubildende auf eine Exkursion nach Auschwitz, wo die jungen Erwachsenen gemeinsam mit polnischen jungen Erwachsenen freiwillige Dienste in der Gedenkstätte leisten und sich über den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes austauschen und informieren. Im Coronajahr 2020 wurde der Aufenthalt Ende September verkürzt und ohne polnische Teilnehmer organisiert.
"Als es dann wirklich durch das Tor ging, wo oben drüber steht, Arbeit macht frei, also ich hatte Gänsehaut bekommen, und es war auch ein Gefühl irgendwie von Angst", sagt Sophie Meier. Der erste Eindruck vom Besuch im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz hat sich bei der 18-Jährigen fest eingeprägt.
Konzentriert sitzt die groß gewachsene junge Frau am Tisch in einem Schulungsraum des VW-Werks Zwickau Mosel. Sie erzählt von der Projektwoche Ende September in der Gedenkstätte Auschwitz. "Man sieht dort definitiv noch die Häuser, die dort stehen, von den SS-Leuten, und von außen. Ich weiß nicht, es sieht irgendwie alt und auch ganz neu aus, schwierig zu beschreiben, als wäre da nicht etwas passiert! Wie ein ganz normales Umfeld, mit Wiese, mit ein paar Bäumen, also wie ein kleines Dorf eigentlich."
Sophie Meier ist im dritten Lehrjahr bei VW in Zwickau und wird zur Verfahrenstechnikerin Beschichtung ausgebildet. Bevor sie am Jugendaustausch teilnehmen durfte, wusste sie wenig über das, was zu der Zeit, als die Nationalsozialisten an der Macht waren, nahe der südpolnischen Kleinstadt Oświęcim passiert war. Das gilt auch für Max Jugel. Er ist 19 Jahre alt, im vierten Lehrjahr und wird Mechatroniker bei VW: "Im Geschichtsunterricht wird einem schon ein bisschen was erzählt, aber nichts Direktes."
Hier setzt das Jugendprojekt an, das der VW-Konzern 1987 gestartet hat. Seit 2001 ist der Standort Zwickau mit Lehrlingen dabei. Die Auszubildenden müssen sich bewerben, erzählt die Projektleiterin Andrea Vogelsang: "Es wird geschaut, wen nehmen wir mit für das Projekt, und wir fragen natürlich auch die Azubis, was sie bewegt, an so einem Projekt teilzunehmen."
Ziel des Projektes, das in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Auschwitz-Komitee organisiert wird, sei es, andere Kulturen kennenzulernen und aus der Vergangenheit zu lernen, damit sich so ein "Zivilisationsbruch" nicht wiederhole, sagt Vogelsang.
Freiwilligenarbeit vor Ort fällt aus
Seither haben rund 3800 deutsche und polnische Auszubildende und Berufsschüler an dem Projekt teilgenommen. Die jungen Leute werden sorgfältig auf den Aufenthalt vorbereitet. Der Besuch vor Ort dauert normalerweise zwei Wochen. Danach, so war es vor Coronazeiten, kommen die jungen polnischen Erwachsenen nach Berlin, um noch einmal ihre Erfahrungen auszutauschen, aber auch um gemeinsam Erinnerungsorte in Berlin zu besuchen. "Wir sagen immer, in so einem Projekt wird sicherlich gelacht und auch über viel Privates gesprochen, aber es wird auch geweint", sagt Vogelsang.
Dieses Mal konnten sie nicht wie sonst bei den Projekt-Aufenthalten in der Gedenkstätte von Auschwitz und Auschwitz-Birkenau überwachsene Weg freilegen, Stacheldrahtzäune reparieren, verwitterte Dachziegel reinigen oder Grundmauern von ehemaligen Häftlingsbaracken freigelegen. "Man begreift etwas, wenn man es wirklich mal in der Hand hat", ist die Erfahrung.
"Es werden Urkunden, Belege eingescannt und digitalisiert, solche Dinge. Aber auch bis hin, das habe ich auch selbst schon gemacht, Schuhe gereinigt, also Schuhe von Ermordeten, die du dann vor dir liegen hast, und dann hast du Schuhe in der Hand, die dann konserviert werden. Also das war etwas. Man begreift etwas, wenn man es wirklich mal in der Hand hatte. Und wenn du auch den Stacheldraht, den die Auszubildenden erneuern, wenn du das in der Hand hattest, das sind ganz andere Gefühle, als wenn du das nur erzählt bekommst."
Auch Sophie und Max haben in der Gedenkstätte Auschwitz diese "Momente des Grauens" erlebt: "Man hört ja immer viel, aber man begreift es wirklich erst, wenn man dort ist. Man muss es selber gesehen haben, um zu begreifen, was dort passiert ist", ist ihre Erfahrung. "Die ganze Zeit dort war – man kann es gar nicht beschreiben – das war komisch, nicht direkt traurig, aber irgendwie so unvorstellbar."
Persönlicher Brief an Holocaust-Überlebenden
Besonders beeindruckt hat Max die Geschichte eines Steines im Hauptlager, der die eingeritzte Nummer eines Auschwitz-Häftlings trug. "Man sieht den Stein so als normaler – ich sage jetzt mal - Tourist, wenn man da reingeht und denkt sich da nichts weiter dabei, aber, die hatten ja dort keine Stifte. Und wenn jemand ihn da erwischt hätte, wie er das dort einritzt in den Stein, hätten sie ihn ja sicher umgebracht. Das heißt, er muss sich dort jeden Tag, wenn die dort vorbeigelaufen sind, rausgeschlichen haben, sein Leben eingesetzt haben dafür, dass er mit seinem Fingernagel oder irgendeinem Stock das über mehrere Male, tausend Male, bis man es wirklich lesen kann dort einritzen kann."
Was bleibt nach dieser Projektwoche in Auschwitz und Oświęcim? Die jungen Erwachsenen haben einen persönlichen Brief an einen der letzten Holocaust-Überlebenden in Sachsen geschrieben. Er ist 95 Jahre alt und lebt in Chemnitz. Sie haben sich bei ihm für seine unermüdliche Arbeit als Zeitzeuge bedankt. Zugleich haben sie für sich entschieden, sich mehr einzumischen, wenn es in öffentlichen oder auch privaten Diskussion um das Thema Holocaust geht: "Einfach die Geschichten zu überliefern, dass es halt nicht in Vergessenheit gerät", das verstehen sie jetzt als Auftrag für die Zukunft. "Es ist einfach ein grausames Gefühl zu wissen, was Menschen anderen Menschen angetan haben, dass Menschen im Stande sind, so etwas zu tun."