Erste tschechische Sportlerin erzählt ihre Missbrauchsgeschichte

Niemand will etwas geahnt haben

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Die tschechische Sportlerin Tereza Vytlačilová machte öffentlich, dass sie sexuell missbraucht wurde.
Die tschechische Sportlerin Tereza Vytlačilová machte öffentlich, dass sie sexuell missbraucht wurde. © Jana Mensatorová/Bez frází
Von Marianne Allweiss |
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Sie galt als Nachwuchshoffnung in der Leichtathletik, bis sie zusammenbrach: Tereza Vytlačilová. Mit ihr hat nun erstmals eine tschechische Sportlerin öffentlich erzählt, wie ihr Trainer sie jahrelang sexuell missbraucht hat.
Tereza Vytlačilová ist 15 Jahre alt, als es anfängt. Die Leichtathletin bereitet sich auf ihre erste Junior-Weltmeisterschaft vor - zusammen mit ihrem Trainer. Er ist 40 Jahre älter. Im Trainingslager wird er sie das erste Mal küssen - und dreieinhalb Jahre lang sexuell missbrauchen.

Kaum öffentliches Interesse in Tschechien

In einem Internet-Portal für Sportler schreibt Vytlačilová: "Es gibt wahrscheinlich nichts beim Sex, was er mir nicht angetan hat." Schockierende Schilderungen, die den Juristen und Journalisten Pavel Houdek nicht überraschen. Er erinnert an den Missbrauch der Turnerinnen in den USA:

In Tschechien wurde über Missbrauchsfälle nicht gesprochen. Es war eine Art Tabu. Und jetzt ist es Tereza Vytlačilová, die das Thema zum ersten Mal explizit auf den Tisch legt. Für mich hat ihre Geschichte eine unglaubliche Sprengkraft. Aber hier interessiert es niemanden so wirklich.

Journalist Pavel Houdek

Houdek hat über den Fall einen Artikel in der unabhängigen Tageszeitung "Denik N" geschrieben. Es gibt auch ein paar Berichte, besonders in Boulevard-Medien – zusammen mit Fotos von ihr und von anderen bekannten Opfern von sexuellem Missbrauch - außer Vytlačilová alles Fälle aus dem Ausland. Dabei glaubt Houdek nicht, dass die Geschichte ein Einzelfall im tschechischen Sport ist:
"Ein Umfeld mit so einem extremen Machtgefälle: mit reifen Männern auf der einen Seite und oft mit Kindern auf der anderen Seite, wird bestimmte Menschen anziehen, die dann auch noch ein ziemlich freies Feld haben, wenn es keine Regeln gibt – und die gibt es hier nicht.“
Der Journalist Pavel Houdek
Der Journalist Pavel Houdek sieht in dem Missbrauch der Sportlerin keinen Einzelfall.© Pavel Houdek

Kritik am tschechischen Leichtathletikverband

Die frühere Leistungssportlerin schildert, wie sich niemand aus ihrem Umfeld wundert, dass ihr Trainer gemeinsame Zimmer bucht, zum Teil mit Doppelbett; dass er anfängt, sie selbst zu massieren. Angeblich, um Geld zu sparen. Mit 18 Jahren findet sie den Mut, sich ihrer Familie anzuvertrauen. Sie gibt ihre Karriere auf, macht Therapien, lebt bis heute mit Selbstmordgedanken. Interviews will sie nicht geben.
Auch der tschechische Leichtathletikverband äußert sich nur schriftlich. Der sexuelle Missbrauch von Tereza Vytlačilová sei ein bedauerlicher Einzelfall. Der Verband habe einen Ethikkodex verabschiedet und einen Compliance-Beauftragten ernannt. Das war allerdings fünf Jahre später und von möglichem Missbrauch ist dort nicht die Rede.
"Wenn so eine Institution keine aktiven Maßnahmen ergreift, wenn sie mit ihren Mitgliedern nicht darüber spricht, wenn sie nicht darüber informiert, dann sind diese Instrumente wirklich nur formal", sagt Houdek.

Fehlende Sensibilisierung für das Thema

Pavel Houdek arbeitet außerdem als Trainer für Selbstverteidigung. Immer wieder hat er sich mit Missbrauchsfällen beschäftigt und Zeugenaussagen gesammelt - zum Beispiel über Belästigungen durch Ärzte und Fahrlehrer. Dort gebe es bei einer Sensibilisierung für das Thema viel Widerstand. Die Universitäten seien da oft weiter, findet er: "Ich denke, dass wir insgesamt noch vor dem Anfang stehen. Wenn der Anfang Null ist, sind wir bei diesem Thema bei minus zwei."
Ganz so pessimistisch ist die Soziologin Iva Šmídová nicht. Es sei ein Fortschritt, dass sich Opfer von Langzeitmissbrauch trauen, ihre Geschichten zu veröffentlichen. Ein Teil der Tschechinnen und Tschechen, vor allem die jüngeren, führe eine professionelle Debatte:
"Gleichzeitig polarisiert sich die Gesellschaft nicht nur in Tschechien stark, sodass diese Themen für einen anderen Teil der Gesellschaft ein rotes Tuch sind. Sie werden als übertriebene Provokationen wahrgenommen, die von den 'Eliten' übernommen werden und die nun die 'freien, normalen' Menschen daran hindern, die Dinge so zu tun, wie sie es immer getan haben."

Sexueller Missbrauch wird oft verharmlost

Besonders im Sport sei die Angst vor einem Machtverlust groß. Aber auch insgesamt gebe es eine starke konservativ-kirchliche Strömung in Tschechien und seit rund einem Jahr auch eine sehr konservative Regierung. Auch im Regierungsrat für die Gleichstellung der Geschlechter erlebe sie Widerstand von der Seite des Staates, sagt Šmídová.
Außerdem werde in den Schulen, in der Öffentlichkeit oder auch im Fernsehen sexueller Missbrauch oft verharmlost. Die Soziologin beobachtet außerdem, wie solche Fälle vor Gericht aufgearbeitet werden:
"Es gibt hier erschreckend große Unterschiede zwischen den Richtern. Auch darin, mit welcher Ernsthaftigkeit sie sich einer sekundären Viktimisierung widmen. Manchmal wird es auch einfach bagatellisiert."
Der Prozess der früheren Leichtathletin Vytlačilová hat sich über drei Jahre gezogen. Ihr ehemaliger Trainer wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt, nach einer Berufung waren es dreieinhalb Jahre, abgesessen hat er ein Jahr. Zurzeit steht ein früherer Junior-Trainer des nationalen Tischtennisteams wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht. Mitangeklagt ist auch sein Verband - er soll den Trainer jahrelang und bis zuletzt geschützt haben.   

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