Hongkong-Chinesen fürchten Verlust ihres Rechtsstaats
Die ehemalige britische Kolonie Hongkong gehört seit 19 Jahren zu China. Seitdem gilt in der Sieben-Millionen-Einwohner-Stadt das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme", wozu etwa gehört, dass es in Hongkong Versammlungs- und Pressefreiheit gibt. Wird es dabei bleiben?
Eine Demonstration in den Straßen von Hongkong. Einige Dutzend Menschen protestieren lautstark gegen den Besuch von Zhang Dejiang, dem Vorsitzenden des chinesischen Nationalen Volkskongresses.
Zhang ist protokollarisch die Nummer Drei der Volksrepublik China und er stattet der Sonderverwaltungszone Hongkong einen Inspektionsbesuch ab, wie es offiziell heißt. Nur: Viele Hongkonger, so auch die Demonstranten, wollen nicht inspizieren lassen von dem Funktionär aus Peking.
Eine politische Demonstration wie diese ist für die mehr als 1,3 Milliarden Menschen in Festlandchina absolut undenkbar. Nicht nur, dass es in Festlandchina weder Meinungs- noch Demonstrationsfreiheit gibt, die politische Situation hat sich seit Amtsantritt von Staatschef Xi Jingping 2013 auch deutlich verschärft.
Immer mehr Menschen in Hongkong haben Angst vor dem wachsenden Einfluss der Pekinger Zentralregierung.
Im Parlamentsbüro der pekingkritischen Abgeordneten Claudia Mo. Die Politikerin der oppositionellen Civic Party warnt seit langem vor der Pekinger Staatsführung um Xi Jinping.
"Wir erleben zurzeit eine entsetzliche Umwandlung unserer Stadt. Hongkong soll in eine Art drittklassige chinesische Stadt verwandelt werden. Unsere Identität und unser koloniales Erbe gehen verloren! Und das frustriert die Bewohner Hongkongs."
Meinungsfreiheit und eine unabhängige Justiz
Wer sich mit Claudia Mo unterhält, der spürt: Hier spricht eine Hongkonger Patriotin, die ihre Freiheitsrechte nicht einfach kampflos aufgeben will. Zu diesen Freiheitsrechten gehören neben Versammlungs-, Presse- und Meinungsfreiheit auch eine unabhängige Justiz. In Hongkong herrscht Rechtsstaatlichkeit. Das wurde vor 19 Jahren vertraglich vereinbart - zwischen der britischen Regierung in London und der chinesischen Staatsführung.
Peking verpflichtete sich damals dem Prinzip: Ein Land, zwei Systeme.
Ein Land, zwei Systeme - dieses Prinzip sei akut gefährdet, sagt Claudia Mo. Als Beispiel nennt die 59-Jährige die geplante Schnellzugstrecke, die Hongkong künftig noch enger mit Festlandchina verbinden soll.
"Sie wollen diese Bahnverbindung bauen. Und sie sagen: Oh, wir möchten die Grenzkontrollen für die Passagiere übrigens auf Hongkonger Gebiet einrichten, mit festland-chinesischen, Pekinger Polizisten!"
Das so genannte "Basic Law", das Hongkonger Grundgesetz, schreibt in fast allen Lebensbereichen eine strikte Trennung vom Rest Chinas vor. Nur für die Außen- und die Verteidigungspolitik ist Peking zuständig. Hingegen haben festland-chinesische Polizisten in Hongkong nichts zu melden. Eigentlich - denn kommt die neue Schnellbahnverbindung wie geplant, könnten künftig festland-chinesische Grenzpolitzisten auch in Hongkong aktiv werden. Ein Paradigmenwechsel.
Polizisten aus Peking in Hongkong? - Die Sorge scheint begründet
Eine andere Entwicklung kommt noch hinzu: Mitten durch die Hongkonger Gesellschaft geht inzwischen ein Riss. Sichtbar wurde das im Hongkonger Stadtteil Mong Kok vor einigen Wochen.
Heftige Ausschreitungen und Krawalle, Dutzende Randalierer liefern sich die ganze Nacht hindurch eine zehnstündige Straßenschlacht mit der Polizei. Auslöser des Gewaltausbruchs: eine Polizeiaktion am Abend des chinesischen Neujahrsfestes, im Amüsier-Viertel Mong Kok. Dort sollten nicht lizensierte Imbiss-Buden geschlossen werden.
"Die Leute sind in den Straßen von Mong Kok zusammen gekommen, um die typischen Straßensnacks zu essen und das Neujahrsfest zu feiern. Niemand hat die Polizei provoziert. Ich hab' keine Ahnung, warum die Polizisten die Straßen geräumt haben. Es hieß, die Leute hätten sich unrechtmäßig versammelt",
sagt Edward Leung, Chef der radikalen Protestgruppe namens "Hong Kong Indigenous", also "Hongkongs Einheimische". Diese Gruppe soll für die Ausschreitungen verantwortlich sein. Ihr Vorwurf, die Polizei habe eine friedliche Versammlung angegriffen, weist die Hongkonger Stadtregierung allerdings vehement zurück, vielmehr habe es sich bei dem Polizeieinsatz um eine legitime Maßnahme der Behörde für Lebensmittelsicherheit gehandelt.
Die Polizisten seien darauf von Randalierern grundlos angegriffen worden. Oppositionelle Aktivisten wie die der "Hong Kong Indigenous" trauen ihrer Stadtregierung allerdings nicht über den Weg, schließlich verfolgt diese eine klar peking-freundliche Politik und ergreift im Zweifel immer Partei pro China.
Bei dem Anfang 20-jährigen Edward Leung und seinen Leuten ist die von Peking kontrollierte Stadtregierung deswegen verhasst. Leung und seine Gruppe deuten immer wieder an, dass als letztes Mittel auch Gewalt in Ordnung sei, um den zunehmenden Pekinger Einfluss zurückzudrängen.
"Bei allem Respekt. Aber wir sehen friedliche Proteste nicht als das richtige Mittel an, um zu Ergebnissen zu kommen. Ich würde das 'kaftvollen Widerstand'nennen. Wenn dich die Polizei angreift, musst du dich verteidigen. Wir haben gekämpft, weil uns der Schutz unserer lokalen Kultur wichtig ist."
Eine Mehrheit der Hongkonger Öffentlichkeit zeigte sich nach dem Gewaltausbruch im Februar schockiert. Das passe nicht in die eigentlich so friedliche Sieben-Millionen-Einwohner-Stadt. Hinter vorgehaltener Hand hört man aber immer häufiger auch Aussagen wie die, dieses 40-jährigen Hongkongers. Er nennt sich Joe und betreibt im Businessviertel Central ein kleines Ladengeschäft.
"Viele Leute sagen: Revolutionen verlaufen immer blutig. Ich glaube das auch. Die Leute in Mong Kok mussten sich wehren. Das ist der einzige Weg."
Würdest du selber kämpfen?
"Ich würde wohl nicht auf die Straßen gehen, um selber gegen die Polizei zu kämpfen. Aber ich würde diese Leute unterstützen!"
Die friedliche "Regenschirm-Bewegung" hat nichts gebracht
Die Sympathien von Laden-Besitzer Joe mögen nicht repräsentativ sein für die Hongkonger Stimmungslage. Aber sie zeigen, dass viele Menschen nicht mehr daran glauben, dass sich die Regierung in Peking von Massendemonstrationen, wie denen vor zwei Jahren, beeindrucken lässt. Die damalige so genannte "Regenschirm-Bewegung" war friedlich geblieben.
Der 22-jährige Studentenführer Nathan Law war dabei. Vor zwei Jahren nahm er als Repräsentant der Demonstranten an einer Fernsehdebatte zu den Forderungen der Regenschirmbewegung teil.
"Die Erwartungen an die Regenschirm-Begung waren enorm. Es heißt immer: Diese Bewegung sei die wohl einflussreichste und von der Teilnehmerzahl her größte in der Geschichte Hongkongs gewesen. Aber wie sich herausgestellt hat, hat sie nichts gebracht, weder für uns noch für den politischen Fortschritt in Hongkong. Das frustriert die Leute zunehmend."
Die damalige Kernforderung der Demonstranten, die freie Wahl des Hongkonger Regierungschefs durch die Bevölkerung, blieb unerfüllt. Nathan Law und seine Mitstreiter aus der Studentenbewegung wollen trotzdem weitermachen, nun streben sie auf die politische Bühne.
"Selbstbestimmung für unsere Stadt!", so der Slogan und der Schlachtruf einer neuen Partei namens Demosisto, gegründet vergangenen Monat von Nathan Law und anderen Aktivisten der ehemaligen Regenschirmbewegung. An der Spitze der neuen Partei steht Joshua Wong. Der heute 19-Jährige wurde vor zwei Jahren zum weltberühmten Symbol der pro-demokratischen Massenkundgebungen. Das US-Magazin "Time" setzte ihn 2014 aufs Titelblatt und kürte den damals noch minderjährigen Hongkonger Studenten zur Person des Jahres.
Selbstbestimmung sei das wichtigste politische Ziel für Demosisto, betont Joshua Wong bei der Gründungsparty seiner neuen Partei Anfang April.
"Auch die Unabhängigkeit Hongkongs sollte eine der Optionen bei einer künftigen Volksabstimmung über den Grad der Selbstbestimmung sein. Wobei ich finde: Unabhängig oder nicht, das ist nicht das Wichtigste, sondern vielmehr die Frage, ob wir echte Demokratie und die Selbstbestimmung für unsere Regierung erreichen. Die Menschen in Hongkong sollten selbst über ihre Zukunft entscheiden, statt die Kommunistische Partei bestimmen zu lassen."
Forderung: ein Stadtstaat nach dem Vorbild Singapurs
Die Forderung nach echter Unabhängigkeit von China, nach Gründung eines Stadtstaates, etwa nach dem Vorbild Singapurs, hört man seit einigen Monaten immer häufiger in Hongkong. Die Zentralregierung in Peking will das jedoch nicht hinnehmen.
Wer laut und in der Öffentlichkeit zum Kampf für ein unabhängiges Hongkong aufrufe, mache sich strafbar, sagen offizielle Vertreter des Pro-Pekinger-Lagers.
Dieses Gerede über Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit - das bringe nichts, stellte der Vorsitzende des chinesischen Nationalen Volkskongresses Zhang Dejian bei seinem Inspektions-Besuch in Hongkong am 18. Mai klar. Und auch, wenn sich das Ausland in die Angelegenheiten Hongkongs einmischt, reagiert die chinesische Staatsführung immer äußerst nervös.
"Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich bei Hongkong um eine chinesische Sonderverwaltungszone handelt. Hongkonger Angelegenheiten sind innerchinesische Angelegenheiten. Kein anderes Land hat das Recht, sich einzumischen!"
Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums Lu Kang bei einem Presse-Briefing in Peking Mitte April. Kurz zuvor hatte das US-Außenministerium in Washington die Fälle der verschwundenen Buchhändler in seinem neuesten Menschenrechtsbericht erwähnt. Ende vergangenen Jahres waren mehrere pekingkritische Verleger und Buchhändler zuerst spurlos aus Hongkong verschwunden und dann unter mysteriösen Umständen in Festlandchina wieder aufgetaucht.
Aus Peking heißt es, die Betroffenen seien freiwillig über die Grenze nach Festlandchina gekommen, zum Beispiel, um sich wegen alter Verkehrsdelikte der Polizei zu stellen. Für Peking-Kritiker in Hongkong ist hingegen klar: Die Betroffenen wurden entführt und unter Druck gesetzt, weil sie von Hongkong aus Bücher mit geheimen Informationen über die Pekinger Staatsspitze veröffentlichen wollten.
Der Buchhändler Paul Tang, er wurde nicht nach Festlandchina entführt, allerdings hat er auch an einem freiwilligen Besuch dort kein gesteigertes Interesse.
Er besitzt das People's Book Café im Hongkonger Stadtteil Causeway Bay. In den Regalen stehen zahlreiche brisante Bücher.
"Zur Zeit sind Bücher über die Wirtschaftskrise und Chinas möglichen Kollaps besonders beliebt. Außerdem sind Geschichten über Präsident Xi Jinpings Machtfülle, seine Militärreform und seinen weltweiten Einfluss gefragt. Über diesen Supermann wollen die Leute mehr erfahren!"
In China verbotene Bücher in Hongkong zu kaufen
Es sind vor allem Kunden aus Festlandchina, die im People's Book Café nach Büchern stöbern, die bei ihnen Zuhause - in Peking, in Shenzhen oder Shanghai - verboten sind. Und weil Hongkong voller festland-chinesischer Geschäftsreisender und Touristen ist, laufen die Geschäfte für Paul Tang gut.
"Die eine Hälfte meiner Kunden schaut sich einfach still in meinem Geschäft um. Die andere Hälfte aber möchte wissen, was wirklich los ist in China. Und diese Kunden fragen mich dann: Hast Du was zu den brisanten, den heißen Geschichten?"
Bücher über Politik, Geschichte, Sex und Religion seien in Festlandchina nicht erhältlich, bei ihm aber schon. Das sorge für Kunden. Und damit diese auch andere Bedürfnisse stillen können, verkauft Paul in seinem Buchladen auch andere Dinge, für die sich Festlandchinesen interessieren: Kartons mit importiertem deutschem Milchpulver zum Beispiel. Das steht bei Festlandchinesen hoch im Kurs, nach den zahlreichen Skandalen um verseuchte chinesische Lebensmittel in den vergangenen Jahren.
Horrorvisionen in dem Film "Ten Days"
Ende vergangenen Jahres kam in Hongkong der Film "Ten Years" in die Kinos. Der Film blickt zehn Jahre in die Zukunft und erzählt in mehreren Episoden Geschichten von ganz normalen Bewohnern Hongkongs. Sie handeln vom Verlust von Freiheits- und Bürgerrechten, und sie handeln vom Verlust der Hongkonger Identität. In einer Episode zum Beispiel wird die Geschichte eines Taxifahrers erzählt, der kein Chinesisch spricht, sondern nur das in Hongkong eigentlich übliche Kantonesisch. Plötzlich aber wird das zum Problem.
Durch seine Weigerung, Hochchinesisch zu lernen, bekommt der Taxifahrer große Schwierigkeiten: mit Fahrgästen, mit seiner eigenen Familie und mit den Behörden.
Die düstere Zukunftsvision "Ten Years" trifft den Nerv einer ehemals selbstbewussten und stolzen Stadt, die heute in vielen Bereichen verunsichert ist. Mehr und mehr Menschen in Hongkong fragen sich, wie es weitergeht, wenn der festland-chinesische Einfluss wächst.
Der 40-jährige Hongkonger Ladenbesitzer Joe hat sich "Ten Years" Anfang des Jahres gemeinsam mit seiner Freundin angeschaut. Und der Film hat ihn nachdenklich gemacht.
"Die Regierung in Peking übt mehr und mehr Einfluss und Druck auf Hongkong aus. Die alten Leute interessiert das nicht so sehr. Sie wollen schließlich Frieden und Ruhe - und keinen Bürgerkrieg oder so etwas. Aber die jungen Leute sorgen sich um ihre Zukunft. Der Film hat mich sehr beeindruckt. Am Ende habe ich fast geweint."
Als der Film "Ten Years" Anfang April den Hong Kong Film Award, den wichtigsten Filmpreis Asiens, gewann, wurden in Festlandchina sämtliche Berichte darüber zensiert. In Hongkong hingegen ist man stolz auf den Mut und den Patriotismus der Filmemacher. Insgesamt scheint es in der ehemaligen britischen Kolonie zwei Lager zu geben.
Die einen blicken mit pragmatischem Zynismus auf die Zukunft Hongkongs, so wie Buchhändler Paul Tang:
"Ich verkaufe Bücher und Milchpulver. Wenn ich irgendwann merke, dass beides nicht mehr läuft, ändere ich eben mein Geschäftsmodell und verkaufe stattdessen das iPhone 10 oder 14. Mal sehen."
Andere Hongkonger wollen offen für ihre freiheitlichen Rechte kämpfen. So wie Claudia Mo von der pro-demokratischen Civic Party.
"Manche sagen, es ergebe keinen Sinn, Widerstand zu leisten. Aber ich bin immer der Meinung: Wenn man um etwas kämpft, wird man vielleicht verlieren. Aber wenn man gar nicht erst kämpft, wird man ganz sicher verlieren."