Nachdenken über einen Begriff
Was bedeutet Wachstum? Der Schriftsteller und Volkswirtschaftler Deniz Utlu geht der Frage nach, was es mit dem Wort und der eigentlichen Bedeutung von Wachstum auf sich hat.
Wenn ich an Wachstum denke, sehe ich Säuglinge, ich sehe einen Grashalm, der sich aus der Erde stößt, Blätter entfaltet, Blüten, die aus Knospen brechen. Ein Welpe wird zum Wolf, die kräftigen Zähne durchstoßen einen Knochen.
In anderen Zusammenhängen stellt "Wachstum" eine Metapher dar: Wie ist es sonst möglich, dass so unterschiedliche Dinge, wie die Zunahme von Gütern und Dienstleistungen in einem Land – 'Wirtschaftswachstum' – und die Reife einer Persönlichkeit – 'an etwas wachsen' – mit dem selben Wort beschrieben werden? Entweder handelt es sich um verschiedene Wörter, die nur dem Klang nach identisch sind, aber etymologisch und semantisch unabhängig – im Deutschen eher selten. Oder das, was das Wort in dem einen Fall beschreibt, wird übertragen auf einen anderen Fall: Organisches Wachsens als Sinnbild für die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts.
Wenn Politik eine Form des gesellschaftlichen Handelns bedeutet, trägt der metaphorische Charakter eines politischen Begriffs eine absonderliche Eigenschaft: Der Begriff, wenn auch selber nur ein Bild - hier das Bild des Wachsens -, gehoben zu einer politischen Orientierungsgröße, verändert gesellschaftliches Tun und damit unter Umständen auch gesellschaftliches Sein. Ich sehe dafür mindestens zwei Gründe:
1. Es werden Konnotationen mitübertragen, die mit dem zu beschreibenden Phänomen nichts zu tun haben, aber unser Verständnis davon beeinflussen.
2. Die Sinnesübertragung gelingt nur unvollständig.
2. Die Sinnesübertragung gelingt nur unvollständig.
Bei dem ersten Punkt geht es vor allem um die Konnotation der Natürlichkeit: Das organische Wachsen, sei es ein Säugling, dessen Gesicht Konturen bekommt, sei es der Grashalm, der zu einem Baum wächst, ist naturgegeben und deshalb zunächst hinzunehmen. Die Produktion von Waren ist allerdings nicht naturgegeben, sondern Resultat menschlicher Entscheidungen und Arbeitskraft.
Die andere Seite des Wachstums ist der Verfall
Wenn nun aber Wachstum als eine Metapher für die Zunahme der Gesamtproduktion in einem Land verwendet wird, dem Bruttoinlandsprodukt, entsteht eine Konnotation der Naturgegebenheit. Durch ein solches Verständnis bekommt Wachstumspolitik eine apodiktische Gewalt: Jedes Argument gegen sie erscheint wie eine Rebellion gegen die Natur selbst. Der Philosoph Bernhard H. F. Taureck hat sich mit diesem Aspekt in seinem Essay "Wachstum über alles – die Karriere einer Metapher" beschäftigt.
Der zweite Grund für die Eigenschaft der politischen Metapher, gesellschaftliches Tun zu modifizieren, liegt in der unvollständigen Sinnesübertragung, wenn ein Phänomen (hier: Wachstum) für ein anderes Phänomen (hier: Zunahme des BIP) verwendet wird:
Wenn wir über "Wirtschaftswachstum" reden und wirtschaftspolitische Ziele formulieren, übergehen wir für gewöhnlich die andere Seite des Wachstums: den Verfall. Bäume leben lange, aber nicht ewig. Der Säugling, der eben erst Zähne und Haare bekommen hat, ist bald ein alter Mann, eine alte Frau, der sie ausfallen.
Wachstum als Bild weiter gedacht, zeichnet eine Verbindungslinie zwischen Natalität und Mortalität. Der Kontext meiner Sterblichkeit limitiert jede Produktion und auch was diese für mich bedeutet. Im Angesicht des Verfalls wird die Frage existenziell, welcher Teil der Produktion in welcher Phase meines Lebens meinem würdevollen Dasein zuträgt oder nicht. Im Angesicht des Verfalls empfinde ich jede Maxime zu arbeiten und konsumieren im Namen einer undifferenzierten Warenzunahme als Kränkung, weil sie meine Würde missachtet, indem sie mich auf ein Dasein für die Arbeit reduziert.
Bei einer literarischen Metapher kennt der Autor oder die Autorin im besten Fall die Konnotationen, die von einem Phänomen zum anderen getragen werden.
Eine literarische Metapher, die scheitert, zerstört allenfalls den Text. Eine politische Metapher, die scheitert, bringt womöglich die ganze Gesellschaft in Gefahr.
Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaft, lebt als freier Autor von Prosa, Drama und Lyrik in Berlin. Er ist Herausgeber des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext. Im Studio / Maxim Gorki Theater veranstaltet er regelmäßig Literaturabende. "Die Ungehaltenen", Dieses Jahr erschien sein erster Roman, Die Ungehaltenen. www.denizutlu.de