Wachstum oder Wohlbefinden

Von Ruth Kirchner |
China ist von einem verarmten, rückständigen Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen - doch der Preis ist hoch: Gewaltige Umweltprobleme werden das Land noch lange belasten. Daher werden neue Wachstumsmodelle diskutiert.
Seit 30 Jahren wächst die chinesische Wirtschaft jedes Jahr um durchschnittlich fast zehn Prozent. Selbst im Krisenjahr 2009 verzeichnete China noch 8,7 Prozent Wachstum. Doch die Kosten für Chinas Turbo-Entwicklung sind überall zu sehen, zu riechen, zu spüren. Die Luft in den Städten ist verschmutzt, viele Flüsse und Seen verseucht, die Böden belastet.

Doch die Frage, wie man ein anderes, nachhaltigeres Wachstum misst, darüber zerbrechen sich seit Jahren die Experten die Köpfe. Die Führung hatte eine Zeitlang mit einem "Grünen Bruttoinlandsprodukt" geliebäugelt. Dabei sollten Wachstum und Umweltschäden verrechnet werden. Als 2006 der erste – und einzige - Bericht zum Grünen BIP vorgelegt wurde, hatten die Statistiker errechnet, dass die Umweltschäden das Land rund drei Prozent an Wachstum gekostet hätten, eine eher niedrige Zahl, die von vielen Experten bezweifelt wurde. Aber auch aus einem anderen Grund wurde das Grüne BIP still und leise wieder begraben, sagt Zhong Dajun, Direktor des Pekinger Instituts für Wirtschaftsbeobachtung:

"Die Idee stieß bei vielen Kommunen auf Widerstand. Für die örtlichen Regierungen ist Wachstum immer noch A und O. Sie kämpfen verzweifelt um das Wachstum, ignorieren die Umwelt und die Verschwendung natürlicher Ressourcen. Es ist ihnen fast egal. Bevor sie keinen Wohlstand haben, werden arme Menschen sich kaum um die Umwelt kümmern."

Trotzdem gibt es seit Ende letzten Jahres eine abgespeckte Neuauflage des Grünen BIP, den "Grünen Entwicklungsindex", den einige Akademiker entwickelt haben. Dabei werden Städte und Provinzen danach bewertet, ob sie eine Balance zwischen Wachstum und Umweltschutz hinkriegen. Zu den über 50 Indikatoren gehören der CO2-Ausstoß pro Bürger und der Anteil der Umweltschutzausgaben an den Gesamtausgaben einer Kommune. Im ersten Ranking landete die Kohle-Provinz Shanxi auf dem letzten Platz, die Hauptstadt Peking lag an der Spitze. Doch bislang ist der Grüne Entwicklungsindex eine rein akademische Übung, ohne praktische Folgen für die Politik. Und vielen Experten reicht er schon lange nicht mehr aus. Denn viele Konflikte haben mit der Umwelt nichts zu tun.

In Peking demonstrierten Hunderte von ehemaligen Armee-Angehörigen. Sie hatten im Zuge von Umstrukturierungen ihre Jobs verloren. Proteste wie diese gibt es relativ häufig im Riesenreich der Mitte. Es gibt einen Bodensatz an Unzufriedenheit über soziale Probleme und Ungerechtigkeiten. Dass sie die Stabilität des Landes gefährden könnten, weiß die Pekinger Führung nur zu gut. Hu Angang, einer der bekanntesten Ökonomen Chinas, fordert daher, in Zukunft mit einem "nationalen Glücksindex" auch das Wohlbefinden der Menschen zu messen. Neu ist die Idee nicht: Der König von Bhutan im Himalaya hatte das schon in den 70er Jahren vorgeschlagen. Und das amerikanische Gallup-Institut veröffentlichte letztes Jahr seinen Länder vergleichenden Glücksindex – mit für China allerdings niederschmetternden Ergebnissen: Die Volksrepublik lag auf Platz 125 noch hinter Afghanistan und nur knapp vor dem Sudan. Die "Huangqiu Shibao", eine parteinahe Tageszeitung, wetterte denn auch gleich, man dürfe sich – auch beim Messen des Glücks – nicht einfach westlichen Interpretationen unterwerfen.

Hu Angang will daher einen Glücks-Index mit chinesischen Besonderheiten entwickeln: neben dem BIP und dem Umweltschutz will er auch die Lebenserwartung berücksichtigen, das Bildungsniveau, die Einkommensverteilung, die Qualität der örtlichen Verwaltungen, und, und, und. Doch so richtig ist die Diskussion über seine Vorschläge noch nicht von der Stelle gekommen. Unterdessen wächst die chinesische Wirtschaft weiter wie bisher: Knapp zehn Prozent allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres.
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