Keine Wahl im abgehängten Asternweg
Politikverdrossenheit aus Armut: Wahlen würden ohnehin nichts an ihrer Lage ändern, glauben viele Menschen in Kalkofen, einem sozialen Brennpunkt in Kaiserslautern. Ihrer Erfahrung nach hat sich die Politik nie um ihr Problemviertel gekümmert.
Beige-graue Mietshäuser, viergeschossig. Fünfziger Jahre, unsaniert, mit viel Grün dazwischen. Grüppchenweise stehen Bewohner auf dem Bürgersteig vorm Haus, andere lehnen sich auf der Fensterbank nach draußen. Im Kaiserslauterer Viertel rund um Astern, Veilchen- und Geranienweg haben wenige Menschen Arbeit und viele Zeit. Dennoch: jemanden zu finden, der verrät, ob er zur Bundestagswahl geht – schwierig.
Mann: "Nein danke. Wir haben eh kee Oi'fluss. Des is alles nur so – Humbug."
Angela Merkel, also CDU, wählt er jedenfalls nicht, erklärt ein Mann, der im weißen Unterhemd vor seiner Wohnung sitzt. Unweit davon quert ein Hundebesitzer mit Prinz-Heinrich-Mütze den sonnigen Asternweg und konstatiert knapp:
Wählen? – Warum auch?
"Ich geh nit wähle - die Merkel oder wen?! Ich wähl' nit! Meine Meinung behalt' ich für mich."
Gedacht waren die Lauterer Schlichthäuser Anfang der fünfziger Jahre als Notquartier für Obdachlose. Dass Menschen über Jahrzehnte in diesem Provisorium bleiben, war nicht vorgesehen. Die Stadt Kaiserslautern und das Land Rheinland-Pfalz haben es irgendwie verschlafen. Sozialer Aufstieg fand nicht statt in diesem trotz Wirtschaftswunders vernachlässigten Viertel.
Als Sozialhilfe-Bezieher, später Hartz-IV-Empfänger wegzuziehen in eine bessere Gegend: schlicht unmöglich. Wer sich um Arbeit und Ausbildung bewirbt, hat heute noch schlechte Karten, wenn die Adresse Astern-, Veilchen- oder Geranienweg lautet.
"Das hat mein Chef mir selbst gesagt."
Dass nämlich der Absender Asternweg seiner Einstellung als Busfahrer zunächst entgegenstand, erzählt Christian Menke. Zum Monatsende verliert der 35-Jährige Familienvater seine befristete Stelle schon wieder. Warum, kann er sich nicht erklären.
Auch die potentielle Erstwählerin verzichtet auf die Premiere
Eine 18-Jährige, die anonym bleiben will, hat noch gar keinen Einstieg ins Berufsleben gefunden. Sie will wohl auch deshalb am 24. September nicht zur Bundestagswahl gehen.
"Für mich ist hier immer alles gleich. Also, ich seh' nie eine Besserung oder sonst irgendwas."
Deshalb: nutzlos, sich über Politik zu informieren, findet die potentielle Erstwählerin, die ihre Premiere auslässt. Dass dann andere für sie entscheiden – Schulterzucken. Egal, wer im Bund regierte oder in Kaiserslautern die Stadtratsmehrheit stellte - für das Schlichthausquartier mit knapp 160 Einwohnern hat sich kaum je etwas gebessert, so sehen das die Bewohner. Seit 2015 hat die Stadt 220 Flüchtlinge in zwei Asternweg-Blöcken untergebracht. Die hätten gerade leer gestanden, kommentierte damals der Oberbürgermeister von der SPD. Man habe die Bewohner zum Auszug gedrängt, angeblich um zu sanieren, korrigiert Christian Menke.
"Kee Dusche – das gibt’s nur im Asternweg"
"Anderswo sind sie ja auch arm", konstatiert der Busfahrer auf Zeit. Aber gegenüber Köln-Chorweiler, der Dortmunder Nordstadt oder der Mannheimer Neckarstadt- West mit ihren fünfstelligen Einwohnerzahlen habe der ehemalige Kalkofen in Kaiserslautern ein Alleinstellungsmerkmal. Nämlich…
"…dass es Häuser gibt, wo kein Warmwasser oder keine Heizung gibt. Sondern nur einen eigenen Ofen, wo man sich das Feuer drin anmachen muss. Und kee Dusche. Also, das gibt’s nirgends. Nur wir am Asternweg, Geranienweg."
Im Jahr 2002 war ein Block saniert und eine großzügige Kindertagesstätte mit Landesmitteln gebaut worden. Doch die meisten Wohnungen blieben ohne Bad und Zentralheizung, mit undichten Fenstern, Eiskristallen im Winter, schimmelnden Wänden. Dass die Stadt Kaiserslautern keine Miete, sondern nur ein Nutzungsentgelt von 2,50 Euro pro Quadratmeter kassiert – kein Trost. Wie sich die Verhältnisse im ehemaligen Lauterer Kalkofen und anderswo in Problem-Vierteln verbessern ließen, beschreibt die rheinland-pfälzische Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler so:
"Anzupacken, zu modernisieren, das ist sicherlich ein Punkt. Der andere ist, dass man wirklich Quartiere schafft, die lebenswert sind, um auch zu verhindern, dass sich nur schwierige Situationen ansiedeln oder kumulieren, dass man beispielsweise auch eine gute Kinderbetreuung organisiert, noch Treffpunkte schafft."
Die Sozialdemokratin erarbeitet einen Plan zur landesweiten Armutsbekämpfung und hat das Quartier soeben besucht, unter Ausschluss der Öffentlichkeit: um nicht in den Verdacht geraten, Armut vorzuführen. Dass im Lauterer Osten endlich angepackt und saniert wird, geht aber weniger aufs Konto der Politik.
TV-Doku über "Straße ohne Ausweg" rüttelt ganze Republik auf
Die zweiteilige Vox-Fernseh-Dokumentation über den Asternweg als "Straße ohne Ausweg" in den Jahren 2015 und 2016 rüttelte bundesweit auf. Ein Verein Unterstützern und Sponsoren überall aus der Republik gründete sich und wuchs auf 120 Mitglieder. Mit welchem Langfrist-Ergebnis, das führt Katharina Dittrich-Welsh, Vorsitzende des Asternweg e.V., gemeinsam mit Christian Menke vor: die ersten neu zugeschnittenen Wohnungen, die Bewohner gemeinsam mit Ehrenamtlichen zuvor komplett entkernten haben, vom Keller bis zum vierten Stock. Die Vereinschefin leuchtet im Dunkeln auf unverputzte Wände und präsentiert die wichtigste Neuerung: das Badezimmer.
"Dann kommt hier ne Dusche hin."
Die Stadt will nach der Elektro-, Wasser- und Abwasser-Installation noch das Verputzen der acht Wohnungen übernehmen, dann sind wieder die Ehrenamtlich dran.
"Wir machen dann die Geräteinstallation, wir bauen die Dusche ein, wir fliesen, wir bauen die Toilette ein, die Heizung. Wir haben ja eine Heizanlage gespendet bekommen von der Firma Buderus, so richtig mit Zentralheizkörpern und Kesselanlage, und dann machen wir den Rest. Der Asternweg e.V. - wir, der Asternweg e.V.!"
Sanierungsschub bewirkt Aufbruch im Quartier
Der Sanierungsschub hat einen Aufbruch im Viertel bewirkt, allenthalben wird gefegt und geräumt, kein Papierchen liegt auf den Grünflächen zwischen den Blöcken. Auf den Bänken am Rand der Spielwiese sitzt ein halbes Dutzend Frauen, Mütter mit Buggys, Kinderwagen - und neugierigen Grundschulkindern. Apropos Aufbruch: wie ist es mit wählen? Joel blickt zu seiner Mutter.
"Was is wähle"?
"Ah, wähle', du kriesch' do e Blatt un' do steht halt die Namen, und do musch' du dann halt o'kreize."
Joels Mutter will aber bei der Bundestagswahl nichts ankreuzen:
Politiker machen eh, was sie wollen
"Die machen eh, was sie wollen, wir werden eh nit gefrocht, Hauptsach', die werden gewählt."
Ela schaut auf das halbe Dutzend Frauen um sich herum, alles mehr oder weniger gestresste Mütter von drei bis sechs Kindern:
"Keener tut die Anschela Merkel wählen – keener!"
Wahlversprechen werden gebrochen, in der Hinsicht seien Politiker von Tiefrot bis Tiefschwarz alle gleich, meinen die meisten der Frauen, die hier sitzen. Vom Neuling AfD erwarten sie nichts anderes. Das Flüchtlingselend habe die Kanzlerin auch nicht vorhersagen können, bringt Yvonne als einzige zur Verteidigung von Angela Merkel vor.
"Sie macht a' e' guter Job, das muss man sagen."
Die anderen: "Wo?" "Welcher?"
Die junge, angestrengt aussehende Frau schuckelt ihr Baby und ergänzt, dass die CDU-Politikerin die Krise so schlecht nicht bewältigt habe. Vor dem Baby hatte Yvonne einen Mini-Job. Sie schluckt, Franziska spricht für sie weiter.
"Ihr Freund geht arbeiten, Vollzeit. Aber sie kriegt nix mehr vom Amt, da ihr Freund bei ihr gemeldet ist. Sie ist arm. Ihr geht’s wirklich nicht gut. Man muss immer gucke: han isch de Kühlschrank im Monat voll? Kann ich meine Kinner mol was erlaube? Man sucht sich immer noch ' n Job dazu. Dann geh' ich noch in 'nem Haushalt putze, dass ma' klarkommt."
Egal, wer regierte – für Deutschlands kleinsten Brennpunkt änderte sich wenig
Für ihr eigenes Leben versprechen sich die meisten der Frauen von keiner Partei eine Wendung zum Positiven. Franziska hält dagegen, sie will am 24.9. zur Wahl gehen, selbst wenn sie eine Riesenkluft erkennt zwischen den Bewohnern des Lauterer Asternwegs und den Politikern im Bundestag, darunter viele aus dem öffentlichen Dienst.
"Die hocken im scheene Sessel. Die sollen des sich alles mol a'gucke, wie es denne Kinner geht, in Schule, Kitas oder in so Verhältnisse, ohne Dusche ohne Bad."
Dittrich-Welsh: "Mann müsste vielleicht statt 'ner Frauenquote auch einfach mal eine Arbeiterquote einführen!"
"Her mit der Arbeiterquote", witzeln sie in Deutschlands kleinstem Brennpunkt. "Alle Parteien abschaffen und noch mal neu anfangen", schlägt eine Frau vor, die abseits der jungen Mütter sitzt.
"Die all' weg, und der Otto-Normalverbraucher."
Mann: "Kleine an die Macht!"
Frau: "Ja!"
Gründung einer neuen Partei
Katharina Dittrich-Welsh sieht das anders. In der CDU war die in einem Tattoo-Studio angestellte Piercerin eher ein Paradiesvogel. Unlängst trat sie aus und in die neu gegründete "Demokratie in Bewegung" ein. Die DiB wird eher Mitte links verortet, setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein. Anders als in anderen Bundesländern hat die neue Partei in Rheinland-Pfalz jedoch nicht rechtzeitig die nötigen 2000 Unterstützerunterschriften präsentiert und wurde zur Bundestagswahl nicht zugelassen. In Kaiserslautern ist Dittrich-Welsh eines von zwei Mitgliedern,
"und in Rheinland-Pfalz gibt es elf Leute, also das ist eine Herausforderung."
Die sozialpolitische Herausforderung im Asternweg bleibt trotz Sanierungsschubs vorerst unbewältigt. Armut und Arbeitslosigkeit über Jahre und Jahrzehnte. Langzeitarbeitslosigkeit ist tödlich, formuliert Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz.
"Wenn ein Mensch mehr als zwei Jahre lang arbeitslos ist, ist die Mortalität, also Sterblichkeit unter sonst vergleichbaren Bedingungen im Vergleich zu Leuten, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, um den Faktor vier bis fünf höher. Und dahinter stehen, das zeigt die Forschung ganz klar, die krank machenden oder – wenn vorher Krankheit schon da war – die enorm krankheits-verstärkenden Wirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit. "
Als gesellschaftliche Pflichtaufgabe leitet der Koblenzer Armutsforscher daraus ab, zumindest den Menschen, die absehbar nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen sind, öffentliche Beschäftigung zu ermöglichen.
Arbeitsmarkt-Förderung für Langzeitarbeitslose halbiert
"Nur ist das Problem: Die Mittel für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für Langzeitarbeitslose wurden von 2011 bis vor kurzem halbiert. Das heißt, weniger Geld steht für eine immer stärker im Teufelskreis der Langzeitarbeitslosigkeit befindliche Gruppe zur Verfügung. Selbst im neuen Haushalt für das Jahr 2018 wurden weiterer Kürzungen der Gelder für Langzeitarbeitslose durchgesetzt von der noch regierenden großen Koalition."
Dass diese sich die Chance entgehen ließ, Armutsrisiken und –folgen wenigstens zu mindern, findet der Wissenschaftler "dramatisch".
"Der Instrumentenkasten ist sehr dünn bis gar nicht mehr vorhanden."
Helmut ist Ende dreißig und sieht mindestens fünf Jahre älter aus. Der sechsfache Familienvater hat beim Entkernen der Asternweg-Wohnungen tatkräftig mitgeholfen. Und das, obwohl er bei einer Messerstecherei verletzt wurde und eine Augenklappe trägt. Er hatte einen Asylbewerber gegen Anwürfe verteidigt. Helmut selbst ist wortkarg, "unser bester Mann" sagt Christian Menke über den langzeitarbeitslosen Helfer. Doch aus dem Kontakt zu Baufirmen, die im Asternweg arbeiten, wird für den 1.50-Euro-Jobber wohl keine Chance auf reguläre Arbeit. Vielen in der Siedlung fehlen die nötigen Abschlüsse, stellt Katharina Dittrich-Welsh fest.
"Manche Leute haben eine Schwäche im Bereich Schreiben oder Lesen, und das ist ja mittlerweile für fast alle Berufe unabdingbar, dass das halt sitzt, denn wenn man nicht lesen kann, was auf einem Sack Zement drauf steht, ist das schwierig. Man müsste im Grunde eine Art Lehrbetrieb installieren, wo man das dann zusammenlaufen lassen könnte."
Ehrenamtliche Sanierung
Der Asternweg e.V. würde dafür gern eine gemeinnützige Gesellschaft gründen. Und den Block, der soeben ehrenamtlich saniert wird, von der Stadt pachten. Denn die größte Angst der Bewohner und ihrer Helfer ist, dass die Wohnungen nach der Sanierung verkauft werden, die geschaffenen Werte damit einem Wohnungsunternehmen und die Erlöse der Stadt zufallen. Quartiersmanagement wird im Rahmen des Bundesprogramms "Soziale Stadt" soeben für ganz Kaiserlautern-Ost eingeführt, ein benachteiligtes Viertel. Doch im Asternweg, der auch dazu gehört, haben sie längst angefangen, sich selbst zu managen. Die Kneipe "Zum Ilse" mittendrin ist das inoffizielle Stadtteilbüro.
Auf einem der Kneipentische hat Wirtin Ilse Menke drei rote Plastikkisten vor sich stehen, abgeholt wie jeden Mittwochabend aus einer benachbarten Bäckerei.
"…eine mit Kaffee-Stückchen, eine mit belegten Brötchen und eine mit verschiedenen Brötchen , und dann teile ich 'n bisschen auf, dass jeder was hat. Und die, wo Kinner haben, ein bisschen mehr."
Steffi bekommt die größte Tüte in den Arm gelegt. Gemeinsam mit Helmut hat sie sechs Kinder.
Ilse Menke: "Oder Kleiderspenden, wo wir dann Tische aufbauen."
"Warum machen Sie das alles?"
"Weil ich die Leute mag. Sie sind alle in Ordnung. Und sie haben halt net viel, und sie sind sehr dankbar, und sie freuen sich auch. Und alles wird teurer."
"Kümmerer" auf Augenhöhe – welch ein Potential für den Asternweg, meint die Mainzer Sozialministerin Bätzing-Lichtenthäler.
"Dieser Ansatz, dass es aus der Gruppe heraus Hilfsangebote gibt, das ist - glaube ich - der erfolgsversprechende. Ich finde an der Stelle schon sehr wichtig einen Ansatz, ob man diese Entwicklung, die im Quartier ist, nicht besser unterstützen kann."
Hilfe beim Selbstmanagment
Katharina Dittrich-Welsh fordert genau das von der Stadt: Bewohnern und Ehrenamtlichen beim Selbstmanagement zu helfen. Beim Entrümpeln von Messie-Wohnungen in der Nachbarschaft ist sie selbst schon an ihre Grenzen geraten. Da muss die Stadt mit Profis assistieren, findet sie. Mit befristeten Modellprojekten sei das Management benachteiligter Viertel jedenfalls nicht zu stemmen, meint der Sozialforscher Stefan Sell. Bezüglich der Kümmerer oder Quartiersmanager beobachtet der Koblenzer Professor aber in der bundesweiten Praxis,
"… dass diese Leute zwar oft in Modellprojekten dann in diesen Statteilen eingesetzt werden, aber wenn nach zwei Jahren die Modellförderung ausläuft, dann wird das Projekt abgewickelt, und die Leute, die sich gerade eingearbeitet haben, verlieren dort ihre Stelle. Das heißt, wir brauchen dort verlässliche und kontinuierliche Strukturen."
Und für Kitas und Schulen in benachteiligten Vierteln am besten doppelt so viel Personal wie üblich, ergänzt der Sozialwissenschaftler.
"Rat mal, was ich da gemalt hab!"
Dass ErzieherInnen und LehrerInnen mehr Zeit für die hundert Kinder vom Asternweg haben, ist auch Franziskas wichtigster politischer Wunsch – ihr Kriterium fürs Kreuzchen am 24. September. Andere will sie bei der Bundestagswahl nicht für sich abstimmen lassen. Unter den Frauen im ehemaligen Lauterer Kalkofen ist sie damit aber wohl eine Ausnahme.