"Während der Meisterschaft gab es fast keinen Protest"
Der Fußball-Rausch ist zu Ende. Was hat die EM der Ukraine gebracht? Der Schriftsteller Andrej Kurkow über die Stimmung in seinem Land, die Boykottaufrufe des Westens und die Chancen der Opposition bei der kommenden Parlamentswahl.
Liane von Billerbeck: Die Spanier im Siegestaumel, die Italiener depressiv. Was ist eigentlich mit der Ukraine, neben Polen Gastgeberland der Europameisterschaft im Fußball? Eine Umfrage unter Ukrainern brachte das Ergebnis, die EM sei besser als erwartet verlaufen, alles gut fanden vor allem junge Leute, die sich eben nur für Fußball und nicht für alles drum herum, schon gar nicht für das Politische interessierten. Nun aber ist der Fußball-Rausch zu Ende. Was hat das Ereignis der Ukraine gebracht? Darüber will ich mit dem Schriftsteller Andrej Kurkow sprechen, er war während der EM die ganze Zeit in Kiew. Seine Bücher wie "Picknick auf dem Eis" oder "Der Milchmann in der Nacht" sind auch auf Deutsch erschienen, Andrej Kurkow, ich grüße Sie!
Andrej Kurkow: Guten Tag!
von Billerbeck: Sie waren während der EM die ganze Zeit in Kiew. Dass man während einer Fußballeuropameisterschaft über Politik spricht, war das nur in den ausländischen Feuilletons so, oder auch in der Ukraine?
Kurkow: Ich muss sagen, darüber wurde auch ganz viel in der Ukraine gesprochen. Und in den Zeitungen und Internetzeitungen gibt es natürlich bis heute ganz viele Diskussionen über die politische Lage in der Ukraine im Zusammenhang mit der Meisterschaft. Aber natürlich, die Mehrheit der Leute war schon nicht so stark an Politik interessiert wie an Fußball in den letzten zwei Wochen.
von Billerbeck: Das war bei uns vermutlich nicht anders! Zwei Oppositionelle sind ja verhaftet, Julia Timoschenko, Jurij Luzenko. Und die beiden deutschen Europa-Abgeordneten Rebecca Harms und Werner Schulz von Bündnis 90/Grüne haben im Stadion ein Transparent entfaltet. Zu sehen war das im UEFA-Fernsehen zwar nicht, aber der deutsche Spielkommentator hat es wenigstens erwähnt. Was geschah noch, Herr Kurkow, während der EM, wovon die Fernsehzuschauer nichts erfahren haben?
Kurkow: Nicht viel, muss ich sagen, weil alle, die die Situation verstehen, natürlich von dem Boykott wussten und dass die ausländischen VIPs nicht zur Meisterschaft kommen. Natürlich gab es auch genug Hinweise in ukrainischen Zeitungen über den Boykott während der Meisterschaft. Und es wurde auch erwartet, dass fast niemand für das Finalspiel kommen würde. Vielleicht ist das die Ursache, warum vor einigen Tagen Herr Lukaschenko, der Präsident von Belarus, von Herrn Janukowitsch nach Kiew eingeladen wurde, weil Janukowitsch vielleicht nicht alleine im VIP-Sektor bleiben wollte. Aber es gab doch andere Präsidenten und Regierungsleute aus Italien, Spanien und der Ukraine zusammen, und alles passierte ganz normal, muss ich sagen.
von Billerbeck: Hat die Opposition dann diese Europameisterschaft genutzt, um da öffentliche Demonstrationen oder Protestaktionen zu starten?
Kurkow: Nein, die Opposition hat die Zeit vor der Meisterschaft benutzt, einige Monate vorher. Es gab ganz viele Proteste und natürlich ganz viele Statements von der Opposition in Europa. Und Europa hat stark den europäischen Boykott der Meisterschaft unterstützt und eigentlich provoziert, ja. Aber während der Meisterschaft gab es fast keinen Protest. Es gab eine lustige Demonstration von englischen Fußballfans in Donezk, aber diese Demonstration war eigentlich gegen BBC-Rundfunk und Fernsehen, weil BBC in der Fernsehsendung "Panorama" gezeigt hat, dass die Ukraine eine Gesellschaft mit viel Rassismus ist und eigentlich nicht so freundlich zu Fußballfans afrikanischer oder asiatischer Herkunft ist.
von Billerbeck: Sie haben in Ihren Büchern immer wieder auch die Korruption, das mafiose Verhalten der Herrschenden in der Ukraine literarisch behandelt, die ja immer wieder den Staat und das Land zur Beute machen. Da war so eine EM vermutlich ein ganz wunderbares Ereignis für all die Mafiosi, oder?
Kurkow: Schwer zu sagen, weil Mafiosi, das ...
von Billerbeck: ... in Anführungsstrichen ...
Kurkow: ... das klingt schon ein bisschen anders hier, denn alles ist praktisch legal. Die Strukturen früher hatten ganz viel mit Mafia zu tun, jetzt sind sie zu nah zur Regierung, und eigentlich regieren jetzt die Clans aus der Ostukraine das Land. Und der Präsident ist eigentlich auch aus dieser Region und von der gleichen Partei, von der Regionenpartei. Aber natürlich bleibt die Korruption und sie ist stark wie immer, und es gibt immer Versprechungen vom Präsidenten, gegen diese Korruption zu kämpfen, aber die Mehrheit der Leute, die wegen Korruption inhaftiert sind, sind Leute, die der Opposition angehören!
von Billerbeck: Das heißt, die andere Seite sitzt in Haft, und die, die auch durchaus mit Korruption zu tun haben, aber in der Regierung sitzen, denen passiert natürlich nichts?
Kurkow: Ja, genau!
von Billerbeck: Die Schriftstellerin und Journalistin Natalka Sniadanko, die hat geschrieben in einem Text: Die Gesamtbilanz sieht wenig positiv aus, die Europameisterschaft ist vorbei, jetzt bleiben die Schulden, die Bauruinen und die Parlamentswahl im Oktober, die voraussichtlich zu einer weiteren Stärkung der Diktatur in der Ukraine führen werden, zurück zur Sowjetunion leider. – Stimmen Sie Natalka Sniadanko zu?
Kurkow: Nein, nein, ich bin anderer Meinung. Eigentlich kann man nicht sagen, was während der Parlamentswahlen passieren wird, aber es ist klar, dass Europa wirklich die Qualität und die Ehrlichkeit der Wahl kontrollieren wird. Und falls die Resultate nicht von Europa akzeptiert werden, wird das eine Katastrophe. Und auch die Regierung und der Präsident, glaube ich, verstehen das. Also werden sie alles Mögliche machen eigentlich, um auch die Resultate zu beeinflussen, aber ohne Fälschung. Das heißt, die Opposition wird Schwierigkeiten während der Kampagne haben, aber zurück zur Sowjetunion, das glaube ich nicht!
Gott sei Dank haben wir jetzt nicht nur Probleme mit Europa, sondern auch mit Russland und mit Putin. Und das heißt, dass es wirklich keine Möglichkeit für Janukowitsch gibt, jetzt plötzlich freundlich mit Russland, mit Putin, mit dem Kreml zu werden, oder auch die ukrainischen Oligarchen. Und sie regieren eigentlich das Land. Sie haben mehr Interesse, freundlich mit Europa zu sein, denn sie haben Angst vor russischen Oligarchen und vor Russland: Falls die russischen Investitionen in die Ukraine kommen, dann müssen wirklich ukrainische Oligarchen schon wegfliehen.
von Billerbeck: Hat denn die ukrainische Opposition bei den Parlamentswahlen im Herbst eine Chance, da ihre Möglichkeiten zu verbessern? Oder stehen die da auf verlorenem Posten?
Kurkow: Nein, sie haben gute Chancen! Und nach Anfragen sieht man, dass die Opposition populärer ist jetzt als die regierende Partei! Aber das Problem ist alt: Die ukrainische Opposition ist
immer schwach vor der Wahl, weil sie nicht entscheiden können, wer ist wichtiger. Es gibt zu viele
Führer in der Opposition. Und natürlich sitzt jetzt als Hauptführerin Frau Timoschenko im Gefängnis. Es gibt, ich bin sicher, genug Intrigen zwischen Herrn (…) und anderen Führern der Opposition, und natürlich auch einigen Politikern wie Herr Klitschko oder Herr (…), die gehören zur Opposition, aber möchten getrennt an der Wahl teilnehmen. Und seit einigen Wochen sagt auch der ehemalige Präsident Juschtschenko mit seiner kleinen Partei, dass er getrennt an der Wahl teilnehmen wird. Und das heißt, dass seine Partei ...
von Billerbeck: ... die Opposition völlig zersplittert ist eigentlich ...
Kurkow: ... ja, genau, genau. Juschtschenko mit seiner Partei kann nicht mehr als zwei Prozent Stimmen nehmen, aber das heißt, dass er diese Stimmen, diese zwei Prozent von der gemeinsamen Opposition wegnehmen wird.
von Billerbeck: Wenn man sich das anguckt, was jetzt bei der EM passiert ist, Janukowitsch hat den weißrussischen Diktator Lukaschenko eingeladen: Ist er jetzt durch die Europameisterschaft gestärkt oder geschwächt worden?
Kurkow: Das ist schwer zu sagen. Eigentlich glaube ich, es bleibt das Gleiche wie früher. Man erwartete, dass er schwächer sein würde, aber die Organisation war sehr gut und die Vorbereitungen waren gut und alles ist ganz gut gelaufen, und das heißt, dass jetzt wirklich die Stimmung positiver ist wegen Janukowitsch vielleicht, ja, als früher.
von Billerbeck: Das sagt der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow über die Lage in der Ukraine nach der Fußballeuropameisterschaft. Das Gespräch haben wir kurz vor unserer Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andrej Kurkow: Guten Tag!
von Billerbeck: Sie waren während der EM die ganze Zeit in Kiew. Dass man während einer Fußballeuropameisterschaft über Politik spricht, war das nur in den ausländischen Feuilletons so, oder auch in der Ukraine?
Kurkow: Ich muss sagen, darüber wurde auch ganz viel in der Ukraine gesprochen. Und in den Zeitungen und Internetzeitungen gibt es natürlich bis heute ganz viele Diskussionen über die politische Lage in der Ukraine im Zusammenhang mit der Meisterschaft. Aber natürlich, die Mehrheit der Leute war schon nicht so stark an Politik interessiert wie an Fußball in den letzten zwei Wochen.
von Billerbeck: Das war bei uns vermutlich nicht anders! Zwei Oppositionelle sind ja verhaftet, Julia Timoschenko, Jurij Luzenko. Und die beiden deutschen Europa-Abgeordneten Rebecca Harms und Werner Schulz von Bündnis 90/Grüne haben im Stadion ein Transparent entfaltet. Zu sehen war das im UEFA-Fernsehen zwar nicht, aber der deutsche Spielkommentator hat es wenigstens erwähnt. Was geschah noch, Herr Kurkow, während der EM, wovon die Fernsehzuschauer nichts erfahren haben?
Kurkow: Nicht viel, muss ich sagen, weil alle, die die Situation verstehen, natürlich von dem Boykott wussten und dass die ausländischen VIPs nicht zur Meisterschaft kommen. Natürlich gab es auch genug Hinweise in ukrainischen Zeitungen über den Boykott während der Meisterschaft. Und es wurde auch erwartet, dass fast niemand für das Finalspiel kommen würde. Vielleicht ist das die Ursache, warum vor einigen Tagen Herr Lukaschenko, der Präsident von Belarus, von Herrn Janukowitsch nach Kiew eingeladen wurde, weil Janukowitsch vielleicht nicht alleine im VIP-Sektor bleiben wollte. Aber es gab doch andere Präsidenten und Regierungsleute aus Italien, Spanien und der Ukraine zusammen, und alles passierte ganz normal, muss ich sagen.
von Billerbeck: Hat die Opposition dann diese Europameisterschaft genutzt, um da öffentliche Demonstrationen oder Protestaktionen zu starten?
Kurkow: Nein, die Opposition hat die Zeit vor der Meisterschaft benutzt, einige Monate vorher. Es gab ganz viele Proteste und natürlich ganz viele Statements von der Opposition in Europa. Und Europa hat stark den europäischen Boykott der Meisterschaft unterstützt und eigentlich provoziert, ja. Aber während der Meisterschaft gab es fast keinen Protest. Es gab eine lustige Demonstration von englischen Fußballfans in Donezk, aber diese Demonstration war eigentlich gegen BBC-Rundfunk und Fernsehen, weil BBC in der Fernsehsendung "Panorama" gezeigt hat, dass die Ukraine eine Gesellschaft mit viel Rassismus ist und eigentlich nicht so freundlich zu Fußballfans afrikanischer oder asiatischer Herkunft ist.
von Billerbeck: Sie haben in Ihren Büchern immer wieder auch die Korruption, das mafiose Verhalten der Herrschenden in der Ukraine literarisch behandelt, die ja immer wieder den Staat und das Land zur Beute machen. Da war so eine EM vermutlich ein ganz wunderbares Ereignis für all die Mafiosi, oder?
Kurkow: Schwer zu sagen, weil Mafiosi, das ...
von Billerbeck: ... in Anführungsstrichen ...
Kurkow: ... das klingt schon ein bisschen anders hier, denn alles ist praktisch legal. Die Strukturen früher hatten ganz viel mit Mafia zu tun, jetzt sind sie zu nah zur Regierung, und eigentlich regieren jetzt die Clans aus der Ostukraine das Land. Und der Präsident ist eigentlich auch aus dieser Region und von der gleichen Partei, von der Regionenpartei. Aber natürlich bleibt die Korruption und sie ist stark wie immer, und es gibt immer Versprechungen vom Präsidenten, gegen diese Korruption zu kämpfen, aber die Mehrheit der Leute, die wegen Korruption inhaftiert sind, sind Leute, die der Opposition angehören!
von Billerbeck: Das heißt, die andere Seite sitzt in Haft, und die, die auch durchaus mit Korruption zu tun haben, aber in der Regierung sitzen, denen passiert natürlich nichts?
Kurkow: Ja, genau!
von Billerbeck: Die Schriftstellerin und Journalistin Natalka Sniadanko, die hat geschrieben in einem Text: Die Gesamtbilanz sieht wenig positiv aus, die Europameisterschaft ist vorbei, jetzt bleiben die Schulden, die Bauruinen und die Parlamentswahl im Oktober, die voraussichtlich zu einer weiteren Stärkung der Diktatur in der Ukraine führen werden, zurück zur Sowjetunion leider. – Stimmen Sie Natalka Sniadanko zu?
Kurkow: Nein, nein, ich bin anderer Meinung. Eigentlich kann man nicht sagen, was während der Parlamentswahlen passieren wird, aber es ist klar, dass Europa wirklich die Qualität und die Ehrlichkeit der Wahl kontrollieren wird. Und falls die Resultate nicht von Europa akzeptiert werden, wird das eine Katastrophe. Und auch die Regierung und der Präsident, glaube ich, verstehen das. Also werden sie alles Mögliche machen eigentlich, um auch die Resultate zu beeinflussen, aber ohne Fälschung. Das heißt, die Opposition wird Schwierigkeiten während der Kampagne haben, aber zurück zur Sowjetunion, das glaube ich nicht!
Gott sei Dank haben wir jetzt nicht nur Probleme mit Europa, sondern auch mit Russland und mit Putin. Und das heißt, dass es wirklich keine Möglichkeit für Janukowitsch gibt, jetzt plötzlich freundlich mit Russland, mit Putin, mit dem Kreml zu werden, oder auch die ukrainischen Oligarchen. Und sie regieren eigentlich das Land. Sie haben mehr Interesse, freundlich mit Europa zu sein, denn sie haben Angst vor russischen Oligarchen und vor Russland: Falls die russischen Investitionen in die Ukraine kommen, dann müssen wirklich ukrainische Oligarchen schon wegfliehen.
von Billerbeck: Hat denn die ukrainische Opposition bei den Parlamentswahlen im Herbst eine Chance, da ihre Möglichkeiten zu verbessern? Oder stehen die da auf verlorenem Posten?
Kurkow: Nein, sie haben gute Chancen! Und nach Anfragen sieht man, dass die Opposition populärer ist jetzt als die regierende Partei! Aber das Problem ist alt: Die ukrainische Opposition ist
immer schwach vor der Wahl, weil sie nicht entscheiden können, wer ist wichtiger. Es gibt zu viele
Führer in der Opposition. Und natürlich sitzt jetzt als Hauptführerin Frau Timoschenko im Gefängnis. Es gibt, ich bin sicher, genug Intrigen zwischen Herrn (…) und anderen Führern der Opposition, und natürlich auch einigen Politikern wie Herr Klitschko oder Herr (…), die gehören zur Opposition, aber möchten getrennt an der Wahl teilnehmen. Und seit einigen Wochen sagt auch der ehemalige Präsident Juschtschenko mit seiner kleinen Partei, dass er getrennt an der Wahl teilnehmen wird. Und das heißt, dass seine Partei ...
von Billerbeck: ... die Opposition völlig zersplittert ist eigentlich ...
Kurkow: ... ja, genau, genau. Juschtschenko mit seiner Partei kann nicht mehr als zwei Prozent Stimmen nehmen, aber das heißt, dass er diese Stimmen, diese zwei Prozent von der gemeinsamen Opposition wegnehmen wird.
von Billerbeck: Wenn man sich das anguckt, was jetzt bei der EM passiert ist, Janukowitsch hat den weißrussischen Diktator Lukaschenko eingeladen: Ist er jetzt durch die Europameisterschaft gestärkt oder geschwächt worden?
Kurkow: Das ist schwer zu sagen. Eigentlich glaube ich, es bleibt das Gleiche wie früher. Man erwartete, dass er schwächer sein würde, aber die Organisation war sehr gut und die Vorbereitungen waren gut und alles ist ganz gut gelaufen, und das heißt, dass jetzt wirklich die Stimmung positiver ist wegen Janukowitsch vielleicht, ja, als früher.
von Billerbeck: Das sagt der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow über die Lage in der Ukraine nach der Fußballeuropameisterschaft. Das Gespräch haben wir kurz vor unserer Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.