Wagenbach: Gedichte in der DDR "waren handwerklich besser gearbeitet"

Klaus Wagenbach im Gespräch mit Joachim Scholl |
Nach Ansicht des Verlegers Klaus Wagenbach waren die Gedichte in der DDR durchweg politischer als in der Bundesrepublik. In der DDR sei Lyrik auch anders gefördert worden als im Westen. Wagenbach hat gerade eine Zusammenstellung mit 100 Gedichten aus der DDR veröffentlicht. Er betrachtet die Lyrik als Erbe der DDR.
Joachim Scholl: 1962 wurde in der DDR nach neuer Lyrik gefahndet: Poetische Anwärter rief man zu auf, Gedichte einzusenden. Über 1200 Stimmen meldeten sich, darunter war auch 23-Jähriger namens Volker Braun mit einem Gedicht, und im damaligen Deutschlandsender wurde es verlesen von keinem Geringeren als dem zu dieser Zeit schon berühmten Stephan Hermlin. "Kommt uns nicht mit Fertigem" hieß das Gedicht - hören Sie mal:

(Lesung Hermlin)

Scholl: Stephan Hermlin las "Kommt uns nicht mit Fertigem", ein Gedicht des jungen Volker Braun. Das war eine Aufnahme aus dem Jahr 1962. Dieses Gedicht findet sich nun in einer leicht veränderten Fassung in dem Band "100 Gedichte aus der DDR", herausgegeben von Christoph Buchwald und dem Verleger Klaus Wagenbach. Der ist jetzt bei uns im Studio. Schönen guten Tag, Herr Wagenbach!

Klaus Wagenbach: Tag!

Scholl: 1962, Herr Wagenbach, im selben Jahr noch flog Stephan Hermlin aus der Akademie der Künste in der DDR, weil er dort nämlich eine aufsehenerregende Lesung mit jungen Lyrikern - Wolf Biermann war dabei, Sarah Kirsch, Karl Mickel und eben auch dieser Volker Braun - veranstaltete. Heute sind das große Namen der Literaturgeschichte. Wann haben Sie denn diese neue Lyrik Made in GDR entdeckt?

Wagenbach: Also ich war damals noch Lektor im S. Fischer Verlag und habe das natürlich verfolgt. Ich kannte Hermlin, und in dem Moment, in dem ich den Verlag in Berlin gründete, 65, verstärkten sich natürlich die Kontakte. Aber Hermlin war es, der mir - das muss 62 gewesen sein - die ersten Bänder von Biermann vorspielte. Damals wusste ich natürlich, dass ich solche furchtbaren kommunistischen Sachen nicht bei S. Fischer unterbringen würde, und habe mich erinnert dann, als ich den Verlag gründete in Berlin, an diese Texte.

So kam Hermlin in den Verlag und Biermann in den Verlag. Und Hermlin wurde ja schwerstens gemaßregelt wegen dieser Veranstaltung, wo Sie eben das Gedicht erwähnt haben, und wurde sofort entlassen als Sekretär der Akademie der Künste und hat das mit dem wunderbaren Spruch quittiert: Genossen, ihr habt vollkommen recht, ich würde es wieder tun.

Scholl: Wie muss man sich diesen Kontakt zu den DDR-Autoren vorstellen? Also Sie haben Mitte der 60er-Jahre den Wagenbach-Verlag gegründet in Berlin, bald dort eben auch Literatur aus der DDR verlegt, aber man muss sich vorstellen, die Mauer war schon gebaut. Wie hat sich dieser Kontakt gestaltet?

Wagenbach: Schwierig. Zuerst war es sehr einfach. Ich kam 1964 nach Berlin, wurde natürlich feierlich von der Springer-Presse begrüßt: Ein junger Verleger kommt nach Berlin, wo alle Verlage damals weggingen. Ich rede von Westberlin.

Scholl: Das hat wahrscheinlich nicht lange gedauert, die Begrüßungsarie, oder?

Wagenbach: Und dann kam das Programm raus, das erste, da war natürlich Schluss. Und dann kriegte die DDR raus, was ich da so machte, und dann war auch Schluss. Das heißt, das war wirklich ein glanzvoller, aber auch deprimierender Anfang. Innerhalb eines Jahres war dieses gesamtdeutsche Projekt kaputt. Und deswegen mein anhaltender Traum, mal sozusagen zu gucken, was war da eigentlich literarisch, was ist da als Erbe auf uns zugekommen.

Scholl: Dieses Erbe nun, "100 Gedichte aus der DDR", Sie haben diese Anthologie mit dem Kollegen und Lektor Christoph Buchwald zusammen erstellt und herausgegeben. Hm, zwei Wessis verlegen DDR-Lyrik ... ?

Wagenbach: Das wurde wirklich sofort in der DDR bemerkt, und wir haben drei Verrisse kassiert, alle natürlich von Lyrikern, die nicht in der Auswahl waren. Es war so ein bisschen, so eine Stimmung war seltsam. Da befingern zwei Westleute unsere heilige Literatur. Das ist aber großer Quatsch. Wenn was vor den Brüdern und Schwestern gelten soll, dann ist es unsere Literatur. Ob man das will oder nicht, wir haben das geerbt.

Scholl: Wie kam es denn zu diesem Projekt, hatten Sie die Idee, sagten Sie ... ???

Wagenbach: Ja, ich war durch zwei natürlich berühmtere Bände - das eine ist "100 Gedichte von Brecht" und das andere ist "100 Gedichte ohne Vaterland" von Erich Fried. Zwischen diesen beiden Polen lag es nahe, den Band ... Außerdem habe ich mir gedacht, mal sehen, ob man mit 100 auskommt. Und siehe da, es ging ungefähr, aber mit ein paar Überraschungen.

Scholl: Nach welchen Kriterien haben Sie ausgewählt, weil Sie die Struktur des Buches so nach Kapiteln …

Wagenbach: Ja, also die Kriterien waren eindeutig nur Qualität. Da gibt es die ganz Großen, Peter Huchel, Bobrowski, auch Volker Braun, auch Christa Reinig, Neubewertung, sehr interessante Autorin. Und dann stellte sich die Frage, also gut, Qualität. Dann stellte sich die Frage Gewichtung. Und dann haben wir gedacht, also gut, wir machen maximal drei, vier Gedichte, sonst von jedem Autor nur eins. Das ergab eine gewisse Gewichtung. Dann muss man natürlich ein bisschen darauf hinweisen, dass ein Gedicht in den 50er Jahren erschienen ist und ein anderes in den 80er Jahren erschienen ist.

Also haben wir drei sehr grobe Kategorien gemacht, die sich im Prinzip nach den Vorgaben richteten. Also die erste Abteilung Antifaschismus, das war ja wirklich eindeutig ein antifaschistischer Staat, der sich auch so verstand, und die Bundesrepublik, also unser Teil, die war ganz zufrieden dann mit denen, schenken wir denen Antifaschismus, den können wir hier nicht brauchen.

Dann kam sozusagen die Zeit, die schöne Zeit der frühen 60er Jahre. Es ist eben von heute aus gesehen nicht so, dass die Mauer sozusagen ein Einschnitt war. Sie war natürlich ein Einschnitt, aber ein Einschnitt für Hoffnungen. Das Seltsame war ja, dass viele DDR - und übrigens auch Hermlin, auch Volker Braun, viele dachten, jetzt ist die Mauer, und dann beginnt eine innere Liberalisierung. Pustekuchen, 65 war es dann aus mit dem berüchtigten Plenum.

Scholl: Wenn man ost- und westdeutsche Lyrik dieser Jahrzehnte, 40 Jahre kann man ja sagen sind das, vergleicht, was war, jetzt einmal jenseits der politischen Bezüge und der oftmals verklausulierten Anspielungen in den Gedichten, was war eigentlich anders in der ostdeutschen Lyrik?

Wagenbach: Gute Frage! Anders war in jedem Fall der politische Bezug. Die Gedichte, die damals in der DDR entstanden, waren viel politischer. Ob das versteckt oder offen war, spielt jetzt keine Rolle, aber sie waren viel politischer. Und sie waren handwerklich besser gearbeitet. Es war - das darf man auch nicht vergessen - es gab ja in der DDR eine Kulturförderung, und zwar ging die bis in Bibliotheken in den Kasernen, bis zu den Kulturhäusern, die Schriftsteller mussten in die Schulen, die mussten in die Fabriken. Das heißt, es war diese kulturelle Anstrengung, die sich auch darin ausdrückte, dass es zum Beispiel ein kleines Lyrikheftchen gab jeden Monat, das hieß "Poesiealbum", 90 Pfennig, konnte jeder kaufen. Also das war, wie soll ich sagen, es war ein - ich weiß nicht, ob das die richtige Antwort ist -, aber es war irgendwie ein Staat, der sich als Kultur fördernd verstand.

Scholl: Und die Lyriker, sie lernten mehr auch die Traditionen kennen. Was auffällig ist in dem Band, wenn man liest, wie oft hier auch mit klassischen Formen zum Beispiel gespielt wird. Ich meine, Bobrowski lehnt sich direkt an jemand wie Klopstock an, eigentlich im Westen undenkbar?

Wagenbach: Das war die wildeste Distanz, Bobrowski mit Klopstock. Aber es gab eine, also zum Beispiel, es wurden dort Gedichte geschrieben im Ton des Doppeldistichons, also von Bobrowski zum Beispiel.

Scholl: Keine einfache Versform.

Wagenbach: Ja, kein einfaches Ding. Und das war zum Teil auch das Verdienst eines ganz zu Unrecht vergessenen DDR-Lyrikers namens Georg Maurer. Georg Maurer hat die Literaturklasse in dem Literaturinstitut in Leipzig, was heute auch noch existiert, und zwischendurch Johannes R. Becher Literatur hieß, dort hat er die, die sind alle, wenn man ein bisschen Biografien (???), dann sind alle irgendwann durch diese Schule gegangen. Und er war ein großer Kenner der antiken Formen.

Scholl: Aber Sie haben auch richtige Volkspoesie aufgenommen: Zum richtigen Arbeiterstaat gehört ein ordentlicher Kartoffelsalat, schreiben sie. Diesen Vers kannte in der DDR jedes Kind.

Wagenbach: Ja, das stimmt. Und er war umstritten, habe ich jetzt erst herausgefunden, zwischen zwei Autoren, nämlich Kurt Bartsch und Richard Leising.

Scholl: Den man eigentlich überhaupt nicht mehr kennt.

Wagenbach: Ja, ein vergessener Autor, wunderbarer, nicht zu vergessen, deutsche Lyrik.

Scholl: Was ist Ihr Lieblingsgedicht? Haben Sie eins?

Wagenbach: Ja, habe ich schon. Soll ich's verraten? Es sind dann doch drei oder vier.

Scholl: Na gut, okay. Sagen Sie eins.

Wagenbach: Na ja, Bobrowski liegt sehr nahe. Dann auch ein wunderbares Gedicht von Christa Reinig, "vom blutigen Bomme", eine Ballade, drei Seiten lang. Das war ja auch ein Charakteristikum der DDR-Literatur, lange Gedichte, drei Seiten, vier Seiten. Da gibt's schon schöne Gedichte, muss man lesen.

Scholl: Wenn Sie jetzt über diese Arbeit nachdenken oder durchschauen, das fertige Buch in den Händen halten, ist es das Erbe?

Wagenbach: Ja, ich bin irgendwie ganz stolz auf das Buch. Es geht natürlich überhaupt nicht, kein Mensch will das haben. Falsche Zeit, falsche Sache. Man will ja sozusagen die Wiedervereinigung und die Befreiung von der Diktatur feiern. Aber das ist ein Porträt, das passt irgendwie nicht so ganz in unsere Zeit. Ist aber egal, Buch ist da, wird nicht vergessen, kommt in die Bibliothek.

Scholl: Ich danke Ihnen, Klaus Wagenbach, für Ihren Besuch hier im Deutschlandradio Kultur und dieses Gespräch. Der Band "100 Gedichte aus der DDR", er ist im Klaus-Wagenbach-Verlag erschienen, 169 Seiten zum Preis von 16,90 Euro.
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