Brasilien
Die internationalen Medien würden den gegenwärtigen brasilianischen Präsidenten falsch darstellen und Narrative schaffen, die nicht der Wahrheit entsprechen, glaubt Bolsonaro-Fan Oswaldo de Menez. © picture alliance / ZUMAPRESS.com / Ivan Abreu
Bolsonaro nutzt Desinformation als Wahlstrategie
06:58 Minuten
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro erreicht auf Telegram fast 1,4 Millionen Menschen, sein Herausforderer Lula da Silva rund 70.000. Das könnte wahlentscheidend beim Kampf ums Präsidentenamt sein. Denn Bolsonaro streut dort gezielt Falschinformationen.
Es ist die größte Kundgebung von Bolsonaro-Anhänger*innen während des Wahlkampfes: Die Veranstaltung zur zweihundertjährigen Unabhängigkeitsfeier Brasiliens in São Paulo Anfang September. Über 50.000 Menschen haben sich auf der Avenida Paulista versammelt, der Straße, die die Halsschlagader der Stadt bildet.
An diesem Tag sieht man nicht wie sonst Menschen, die mit schnellem Schritt zur Arbeit laufen, sondern ein gelb-grünes Meer. Die Protestierenden tragen alle brasilianische Nationaltrikots oder haben eine Bettlaken große Nationalflagge um die Schultern hängen. Die Stimmung gleicht einer Mischung aus Straßenfest und Wahlkampfveranstaltung, von den Wagen ertönen abwechselnd Musik oder Redebeiträge, auf der Straße werden Chips, Popcorn und Getränke verkauft und Freiwillige verteilen Flugblätter.
Skepsis gegenüber Journalismus in Brasilien
Oswaldo de Menez ist einer von ihnen. Er hilft seinem Bekannten Emílio Carpanez bei der Wahlkampagne. Er willigt ein, sich interviewen zu lassen, obwohl er dem Journalismus in Brasilien skeptisch gegenüber steht.
„Heutzutage gibt es in Brasilien keinen unabhängigen Journalismus. Nicht bei dem Netzwerk Globo, nicht bei TV Band oder CNN Brasil. Das sind alles Kommunisten, die auf der Seite von Lula stehen.“
Und die Folha de São Paulo?
„Folha de São Paulo ist auch nicht unabhängig, Veja, Isto é auch nicht. Die sind alle gegen den Präsidenten.“
Diffuse Angst vor dem Kommunismus
Oswaldo de Menez ist heute auf der Avenida Paulista, um auch Wahlkampf für Jair Bolsonaro zu machen. Die internationalen Medien würden den gegenwärtigen brasilianischen Präsidenten falsch darstellen und Narrative schaffen, die nicht der Wahrheit entsprechen. Der Hauptgrund aber, weshalb er auf die Straße geht, ist der Kommunismus. Und der komme sicher, wenn Lula gewählt wird.
„Den Menschen hier ist bewusst, dass diese Wahl eine der wichtigsten auf der Welt ist, wegen der Kommunisten in China, Cuba, Nicaragua, die wollen das in Südamerika auch machen und hier die URSAL, die Union der sozialistischen Republiken Südamerikas etablieren, alles rot, damit der Kommunismus hier dominiert.“
Der Begriff, den Oswaldo de Menez hier nutzt, URSAL, kam Anfang der 2000er auf und ging 2018 während der letzten Präsidentschaftswahlen viral. Vor allem in der brasilianischen Rechten, die diesen Begriff verwendet, weil die Union der sozialistischen Republiken Südamerikas zum Ziel habe, dass ihre Länder – also auch Brasilien – ihre nationale Souveränität verlieren.
Manipuliertes Interview mit Lula da Silva
Die diffuse Angst von Oswaldo, dass der Kommunismus in Brasilien Einzug halten wird, hängt stark mit Lula da Silva zusammen. Auf Nachfrage, warum er das glaubt, erklärt Oswaldo de Menez, dass Lula sich mit dem Präsidenten Chiles getroffen habe. Das sei Beweis genug, dass Lula den Kommunismus in Brasilien einführt. Egal welche Nachfrage man Oswaldo de Menez stellt oder wie man argumentiert: Oswaldo de Menez rückt von seiner Meinung nicht ab.
Pedro Prata von der Factchecking-Redaktion „Estadão verifica“, sagt, dass das Scheinargument „Brasilien wird kommunistisch“ Teil des polarisierten Diskurses ist. So einen pauschalen Satz kann man natürlich nur schlecht factchecken.
„Aber wenn es zum Beispiel ein Video gibt, wo Aussagen aus dem Kontext gerissen werden, dann lässt sich das schon überprüfen. Es gibt ein Interview, das aus dem Kontext gerissen wurde, in dem einzelne Sätze zusammengeschnitten und die ursprüngliche Reihenfolge geändert wurde. In dem Video hat er China zitiert, aber er hat generell über die BRICS gesprochen, also Brasilien, Russland, Indien und China“, berichtet Pedro Prata.
„Im Orginalinterview hat er darüber gesprochen, dass sich die BRICS anders organisieren müssen, dass er glaubt, dass das ab 2023 möglich sein wird. Das Video, das dann verbreitet wurde, wurde so zusammengeschnitten, dass es so aussieht, als würde Lula sagen, dass er das kommunistische System aus China in Brasilien einführen wird.“
Factchecking-Artikel gehen nicht viral
Pedro Prata und sein Kollege kooperieren beim factchecken mit Facebook/Meta und können darüber ihre kleine Redaktion finanzieren. Die einzelnen Videos, Texte und Audios finden sie entweder selbst in sozialen Netzwerken, wenn Falschnachrichten viral gehen oder sie bekommen sie von ihren Leser*innen über Whatsapp zugeschickt und prüfen dann, in welchem Kontext sie veröffentlicht wurden.
„Wir suchen auch nach Berichten dazu aus vertrauenswürdigen Quellen, wenn eine staatliche Behörde zitiert wird, dann kontaktieren wir die jeweilige Behörde und überprüfen die Information. Manchmal wird keine Behörde zitiert, sondern es wird sich auf ein Verbrechen bezogen, dann kontaktieren wir die Polizei in der jeweiligen Stadt. Wir versuchen auch, den Urheber der jeweiligen Nachricht zu kontaktieren.“
Am Ende erscheint ein Artikel, der alle Quellen und die einzelnen Schritte des Factcheckings offenlegt. Nur: Diese Artikel gehen nicht viral, anders als die Falschinformationen. Immerhin: Sie werden auf Facebook direkt verlinkt, wenn das jeweilige Video geteilt wird. Der Präsidentschaftskandidat Lula produziert mittlerweile selbst Videos, die Falschnachrichten richtigstellen sollen.
Diese öffentlichen Erklärungen überzeugen Menschen wie Oswaldo de Menez nicht.
Bolsonaro hat deutlich mehr Follower*innen
In einem Video sieht man einen als Geist verkleideten Menschen, der einem auf dem Sofa sitzenden jungen Mann all die Sätze entgegenbringt, die gerade als Falschnachrichten kursieren: Lula wird aus Brasilien ein kommunistisches Land machen, Lula wird die Kirchen schließen. Der Mann auf dem Sofa stellt alles richtig.
Das Video wurde sowohl auf dem Twitter-Kanal von Lula da Silva als auch auf seinem Telegram-Kanal veröffentlicht. Nur: Lula hat auf Twitter fast viereinhalb Millionen Follower*innen, Jair Bolsonaro doppelt so viele. Auf Telegram ist der Unterschied noch deutlicher: Bolsonaro hat fast 1,4 Millionen Abonnent*innen, Lula rund 70.000.
Natürlich sagen diese Zahlen nichts darüber aus, wie der erste Wahlgang am morgigen Sonntag ausgehen wird, aber sie zeigen, dass zumindest die Reichweite bei Bolsonaro-Anhänger*innen sehr groß ist. Es gibt zwar immer mehr Factchecking-Redaktionen in Brasilien, aber Desinformation wird bei der Entscheidung, die die Brasilianer*innen am morgigen Sonntag treffen, sicherlich erneut eine große Rolle spielen.