Stephan Detjen, Chefkorrespondent von Deutschlandradio. Studierte Geschichtswissenschaft und Jura an den Universitäten München, Aix-en-Provence sowie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Rechtsreferendariat in Bayern und Redakteur beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1997 beim Deutschlandradio, zunächst als rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe. Ab 1999 zunächst politischer Korrespondent in Berlin, dann Abteilungsleiter bei Deutschlandradio Kultur. 2008 bis 2012 Chefredakteur des Deutschlandfunk in Köln. Seitdem Leiter des Hauptstadtstudios Berlin sowie des Studios Brüssel.
Eine politische Zeitenwende
Die Wahl von Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten ist vielsagend, findet Stephan Detjen. Sie spiegelt die perfekte Strategie der SPD wider, wirft einen weiteren Schatten auf die deprimierte Union - und hat der AfD den Eintritt in den Bundestag bereitet.
Die Wahl Frank-Walter Steinmeiers ist Teil einer politischen Zeitenwende. Nicht auf dieselbe Weise, wie die fünfte Bundesversammlung, die im März 1969 Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten wählte. Aber Vergleiche und Ähnlichkeiten lagen heute in der Berliner Luft.
Vor 58 Jahren war die Bundesversammlung der Ort, an dem sich jene sozialliberale Koalition formierte, die wenige Monate später die damalige große Koalition in Bonn ablösen sollte. Heute wurde mit der Wahl Steinmeiers zwar nicht eine neue Parteikonstellation geschmiedet. Doch wer ein Stimmungsbarometer in das Reichstagsgebäude hielt, konnte daran einen politischen Klimawandel ablesen, an dessen Ende auch eine Neuordnung der Parteienlandschaft stehen könnte.
Weiterer Auftrieb für den Höhenflug der SPD
Zwei Wochen nach der Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD konnten die Sozialdemokraten das psychologische Momentum verstetigen, das ihre Umfragewerte seit Ende Januar in die Höhe schießen lässt.
Heute erwies sich, wie perfekt das hart verteidigte Timing der SPD bei der Kür ihres Spitzenkandidaten war. Genau zu dem Zeitpunkt, zu dem der Schulz-Effekt an Schubkraft zu verlieren droht, wurde jetzt der Steinmeier-Treibsatz gezündet. Und zur unbändigen Freude der Sozialdemokraten mussten die Wahlmänner- und Frauen der Union selbst mit Hand anlegen, um das Schwungrad der SPD nochmal kräftig mit anzuschieben.
Deprimierte Unions-Vertreter
Bis zur Bundestagswahl ist es noch lange hin und nichts in diesen unberechenbaren Zeiten garantiert, dass sich dieser Lauf der Dinge nicht noch einmal in alle möglichen Richtungen ändert. Doch die Wahlkämpfer und Spin-Doktoren in allen Parteizentralen wissen, wie bedeutsam die Ausgangskonstellationen sind, die am Anfang eines Wahljahres hergestellt werden.
Dieses für sie deprimierende Wissen stand den Unionsvertretern in der Bundesversammlung heute offen ins Gesicht geschrieben. Das ganze Ausmaß der politischen Demütigung, das die gescheiterte Suche nach einer eigenen Kandidatin oder einem eigenen Kandidaten für die Gauck-Nachfolge bedeutet, wurde ihnen spätestens in den Wahlkabinen des Reichstags konkret vor Augen gehalten, als sie ihr Kreuzchen hinter dem Namen des Sozialdemokraten Steinmeier machen sollten.
Nur die AfD und Seehofer verschränkten demonstrativ die Arme
Auch bei Bündnis-Grünen und Liberalen gibt es Abgeordnete, die Steinmeier für einen glanzlosen Technokraten halten oder ihm außenpolitisches Appeasement gegenüber Russland vorwerfen. Die dreistellige Zahl potentieller Steinmeier-Wähler aber, die ihm heute nicht die Stimme gaben, dürfte zum allergrößten Teil aus Vertretern von CDU und CSU bestehen. Im Schutz des Wahlgeheimnisses haben sie die geballte Faust aus der Tasche gezogen, um ein sichtbares Zeichen des Missmuts und der Frustration in ihren Reihen zu setzen.
In Erinnerung von diesem Tag bleibt auch das neuerliche Bild der inneren und äußeren Zerrissenheit, dass Angela Merkel und Horst Seehofer in der ersten Reihe ihrer Fraktion zur Schau stellten. Als Bundestagspräsident Lammert zur Eröffnung der Sitzung – ohne seinen Namen zu nennen – den amerikanischen Präsidenten Trump kritisierte, applaudierte die gesamte Bundesversammlung; nur die AfD-Abgeordneten und Horst Seehofer verschränkten demonstrativ die Arme und verweigerten sich dem symbolischen Schulterschluss der größten parlamentarischen Versammlung des Landes.
Die Entrée für die AfD in den Plenarsaal des Deutschen Bundestages
Auch dieses Bild war indes nur ein Vorgeschmack auf noch kommende Zeiten. Für die AfD, die dieses Mal noch allein über ihre 35 Delegierten aus den Ländern vertreten war, bedeutete die Bundesversammlung die Entrée in den Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Welche Konstellationen die Wähler dort am 24. September herstellen, lässt sich noch lange nicht vorhersagen. Klar aber ist, dass auch sie nur die Ausgangskonstellation für die Bildung von Allianzen wird, die über die künftige Regierung Deutschland entscheiden. Klar ist auch, dass die Optionen dafür so vielfältig sein werden, wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.
Die ganze Bedeutung der heutigen Wahl des Bundespräsidenten könnte sich erst dann erweisen. Wenn Mehrheiten unübersichtlich sind, eine Regierungsbildung schwierig ist, Koalitionsverhandlungen nicht vorankommen und über Neuwahlen diskutiert wird, richten sich die Blicke zwangsläufig auf den Bundespräsidenten. Dann wird aus dem repräsentativen Staatsoberhaupt ein Akteur der Politik, dessen verfassungsrechtliche Reservefunktionen die Stabilität der Demokratie garantieren sollen.
Im Ernstfall kann es auch ein mächtiges Amt sein
Auch das ist heutiger Sicht Spekulation. Aber in Zeiten, die uns gelehrt haben, die Grenzen des Denkbaren weit zu verschieben, ist diese Dimension der heutigen Wahl am Ende des Tages die bedeutsamste: jenseits aller inneren Brüche und politischen Verwerfungen hat das parlamentarische System dieses Landes einen hoch erfahren und international anerkannten Politiker, der wie wenige andere das Vertrauen der breiten Bevölkerung genießt, in das höchste Staatsamt gewählt.
Im Ernstfall kann es auch ein mächtiges Amt sein. Heute symbolisiert es einmal mehr Funktions- und Konsensfähigkeit der parlamentarischen Demokratie. Man muss den Blick nicht weit über die Grenzen Deutschlands hinaus richten, um zu erkennen, dass dies keine Selbstverständlichkeit mehr ist.