Nationalismus als Sackgasse
Der Westbalkan ist auf dem Sprung in die Europäische Union. Sechs Länder fehlen noch. Warum es wohl viele Jahre dauern wird, zeigt Bosnien-Herzegowina: drei Volksgruppen, viel Nationalismus und eine Wahl am Sonntag ohne Folgen.
Samstagmorgen in der Innenstadt von Sarajevo: Ein Rentner steht ein wenig am Rande des samstäglichen Treibens, im Schatten der Markise eines Schmuckladens. Er hat sein ganzes Leben in Sarajevo verbracht, arbeitete in einem staatlichen Unternehmen in der Im- und Exportabteilung. Was er, mit seiner Lebenserfahrung, von den Parlamentswahlen am 7. Oktober erwarte?
"Nichts. Ich denke, dass es nicht zu großen Veränderungen kommen wird."
Der Rentner hat in seiner Geburtsstadt alles erlebt: Die jugoslawische Zeit, von der viele, nicht nur die Alten, als der "guten Zeit unter Tito" sprechen - den Ausbruch des Kriegs Anfang der 90er Jahre, die 44 Monate andauernde Belagerung und den verheerenden Beschuss der Stadt durch serbische Einheiten, den Waffenstillstand und das äußerst unvollständige Daytoner Abkommen, die später erfolgte de facto Teilung Bosnien-Herzegowinas auf unabsehbare Zeit entlang der ethnischen Bevölkerungsgruppen, deren Empfinden noch von den nicht vernarbten Erinnerungen an getötete Familienmitglieder und Freunde geprägt ist.
Noch immer leben muslimische Bosniaken, orthodoxe Serben und katholische Kroaten weitgehend räumlich getrennt:
"Alles dreht sich jetzt um die nationale Zugehörigkeit. Früher war das überhaupt nicht so wichtig. Als ich klein war – ich bin muslimisch – habe ich gesehen, dass die anderen Kinder Eier färbten. Und als ich meine Mutter fragte, warum sie das nicht tut, da sagte sie mir: ‚Naja, wir gehören nicht dieser Religion an.‘ Damals haben alle alles gefeiert: Muslimische Feiertage, Weihnachten, Ostern. Damals war es nicht so wichtig und jetzt dreht sich alles um diese nationale Zugehörigkeit."
Höchste Arbeitslosigkeit auf dem Westbalkan
Mit seiner einjährigen Tochter im Kinderwagen, deren rotweiß gepunktetes Sonnenhütchen schon ein wenig verrutscht ist, spaziert der 36-jährige Damir durch die Innenstadt:
"Ich erwarte keine großen Veränderungen. Es werden die gleichen nationalistischen Parteien gewählt. Die nationalistische Rhetorik ist wieder stark. Also, ich erwarte nichts."
Dabei, so sagt der fast zwei Meter große Mann, gehöre er zu den vielleicht fünf Prozent der Bevölkerung, denen es gut gehe: Er habe einen Job in der Telekommunikations-Branche, sein Frau sei Pharmazeutin und ebenfalls berufstätig. Aber wenn er die Lage seiner Nachbarn ansehe, dann könne es ihm einfach nicht gut gehen. In keinem anderen Land auf dem Westbalkan ist die Arbeitslosenquote so hoch wie in Bosnien-Herzegowina, derzeit liegt sie bei knapp 39 Prozent – und sinkt nur wegen der anhaltend starken Auswanderung. Für den jungen Familienvater müsste sich vor allem auf diesem Gebiet etwas tun:
"Die Wirtschaftslage sollte sich ändern. Aber leider sprechen davon unsere Politiker nur vor den Wahlen, von den großen Wirtschaftsreformen, von der EU und NATO, aber sobald die Wahlen vorbei sind, denken sie überhaupt nicht mehr daran."
Seine kleine Tochter rutscht, obgleich gut im Kinderwagen angeschnallt, unruhig auf ihrem Sitz umher, die noch intensive Septembersonne wird ihr zu warm. Sie drängt zum Aufbruch. Mit den gegenwärtigen Politik-Personal im Land könne man keinen Staat machen, kann Damir noch sagen, bevor er weiter muss - und schon gar nicht in Bosnien-Herzegowina mit seinen drei nationalistischen Parteiführern der Kroaten, Bosniaken und Serben und deren folgsamen Polit-Funktionären:
"Wir brauchen neue Anführer, neue Politiker. Junge Menschen, die am besten im Ausland studiert und etwas von der Welt gesehen haben. Die, die wir jetzt haben, sind überhaupt nicht gereist, die sind im alten kommunistischen System groß geworden. Sie sprechen demokratisch, aber sie denken noch wie in den alten Zeiten. Deshalb brauchen wir die Jungen!"
Wer nicht in einer Partei ist, verlässt das Land
Zijada, die Besitzerin eines kleinen Parfüm- und Kosmetikladen in der Saraci Gasse, hat das Gespräch verfolgt. Auch an sie die Frage: Was erwarten Sie sich von den Wahlen?
"Ich erwarte nichts Neues. Nichts wird sich hier ändern."
Sie sei jetzt 52 Jahre alt. Und die soziale Kluft zwischen Menschen wie ihr und den mit den Regierenden eng vernetzten Superreichen werde immer größer. Von Wahlperiode zu Wahlperiode:
"Ich arbeite hier fast rund um die Uhr, um überleben zu können. Hier gibt es eine Gruppe, die alles regiert und hier gibt es nur die Armen und die Reichen."
Viele junge Menschen verließen das Land, falls sie nicht in einer Partei seien, wie Zijada zutreffend schildert. Für die Jungen gebe es keine Chance, eine Arbeit zu finden, obwohl sie Hochschulabschluss hätten. Als Beispiel führt sie die Lage ihre beiden erwachsenen Kinder an:
"Ich habe zwei Töchter. Die Ältere hat vor fünf Jahren ihr Jura-Studium abgeschlossen, hat aber keine Arbeit. Die Jüngere studiert Biogenetik im zweiten Studienjahr, aber die hat vor, nach Deutschland zu gehen. Die Kleine sagt: ‚Wenn es so weitergeht, dann wird das hier das Land der Alten und Greisen.‘"
Die Wirtschaft in dem faktisch geteilten Land ist die am wenigsten wettbewerbsfähige in der gesamten Region. Die ausufernde Dezentralisierung der Regierungsstellen, eine immense Bürokratie und seit Jahren zurückgehende Auslandsinvestitionen, sowie die höchte Arbeitslosigkeit unter den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, sorgen für die Abwanderung ins westliche Ausland.
Die Brücke von Mostar als Touristenmagnet
Ein Sonntagmorgen im westlichen Teil von Mostar, der größten Stadt von Herzegowina, rund vier Autostunden südwestlich von Sarajewo. Die Kirchenglocken in den überwiegend von kroatischen Bosniern bewohnten Stadtbezirken rufen die katholischen Gläubigen zur Messe.
In der engen Gasse zur Brücke von Mostar schieben sich Touristen aus aller Welt entlang der Einkaufsläden und Restaurants in Richtung des Wahrzeichens der Stadt: Zur Brücke von Mostar, zur 2004 wieder errichteten Brücke, denn die "Stari Most", die alte Brücke über die Neretva, das im 16. Jahrhundert erbaute, osmanische Meisterwerk, war im November 1993 durch gezielten mehrstündigen Beschuss von Einheiten des kroatischen Verteidigungsrates zerstört worden.
Auf einem Hocker vor seinem Textil- und Andenkenladen sitzt Enes und trinkt seinen vormittäglichen Kaffee. Seit 17 Jahren betreiben seine Frau Ljubica und er diesen Laden in unmittelbarer Nähe zur Brücke, das ganze Jahr über, nur an zwei Tagen würden sie zumachen. Es sei ihre einzige Einnahmequelle, um sich und ihre erwachsenen Söhne zu unterhalten. Von den Wahlen hält er nichts, es würde sich ohnehin nichts zum Besseren wenden.
"Wenn Sie hier leben würden, wüssten sie, dass seit 25 Jahren nur leeres Gerede kommt. Die Politiker versprechen, dass es besser sein wird, aber nichts wird besser. Sehen Sie, meine Frau und ich, wir sind beide Tierärzte, aber arbeiten hier. Wir haben einen Sohn, der ist in Amerika, der zweite lebt in Dubrovnik, das dritte Kind in Sarajevo – alle sind arbeitslos. Die jungen Menschen verlassen das Land und gehen nach Deutschland oder Island oder wer weiß wohin."
Er schäme sich nicht, diesen Verkaufsladen zu betreiben, obwohl seine Frau und er eigentlich Tierärzte seien. Was ihn wohl störe, sei die Korruption und wie Enan es ausdrückt, "dass sie alle lügen!"
"Die Politik sollte ein Nebenjob sein, also dass man etwas für die Gesellschaft tut und nicht, dass Du ständig lügst und das Geld einkassierst."
Klientelismus aus dem Kommunismus hat überlebt
Die Durchschnittrente liegt bei umgerechnet 200 Euro im Monat. Und über 30 Prozent der Menschen über 65 Jahre erhalten gar keine Rente. Es sind Zahlen wie diese, die das Ausmaß der sozialen Lage in dem ehemaligen Bürgerkriegsland illustrieren. Zahlen, die Professor Nikolina Obradovic als Sozialwissenschaftlerin an der Universität von Mostar analysiert. Nach dem Krieg lebte und lernte die Akademikerin lange Zeit in Großbritannien, bevor sie in die Herzegowina zurückkehrte und nun an der im westlichen Stadtteil gelegenen Hochschule zu unterrichten. Nikolina Obradovic hat einen unverstellten Blick auf die Politik ihres faktisch unverändert geteilten Landes:
"Ich glaube nicht, dass diese Wahlen etwas ändern werden. Weil es auf der politische Bühnen nichts neues gibt."
Es sei gleichgültig, ob der bosnische Ableger der kroatischen Regierungspartei HDZ etwas zulegen werde oder die bosniakische SDA von Bakir Izetbegovic oder die Partei der bosnischen Serben SNSD von Milorad Dodik Stimmen verlieren werden. An dem System werde sich nichts ändern, sagt die Wissenschaftlerin:
"Es ist schlimmer als vor dem Krieg. Klientelismus gab es hier schon vorher. Der Zugang zu Jobs wurde von der kommunistischen Partei kontrolliert, ebenfalls der Zugang zu Ressourcen, Dienstleistungen, zu allem. Das System hat überlebt und ist heute noch schlimmer, weil man geringere wirtschaftliche Möglichkeiten hat als vorher, Und ich glaube, vor allem junge Leute haben davon die Nase voll. Das ist, so glaube ich, einer der Hauptgründe, warum sie gehen."
Rund 30 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten im öffentlichen Sektor. Rund 40 Prozent des Staatshaushaltes werde für die Versorgung von Kriegsveteranen ausgegeben.
Daytoner Abkommen und Gesamtstaatlichkeit auflösen?
Banja Luka, im Norden von Bosnien-Herzegowina, die zweitgrößte Stadt mit nahezu 200.000 Einwohnern, und zugleich – Regierungssitz der "Republika Srpska", der serbisch dominierten "Entität" des Landes. Seit Ende der 90er Jahre wird die Republika Srpska von Milorad Dodik dominiert, zunächst in der Funktion des Premierministers, seit 2010 ist er Präsident der serbischen "Entität" – ein völkerrechtlicher Ausdruck, der im Daytoner Abkommen festgelegt worden ist.
Es ist ein sonniger Herbsttag: In der Einkaufsstraße in der Nähe des zentralen Stadtparks Petar Kocic herrscht kein großes Treiben. Schuh- und Kosmetikläden wechseln sich mit ausländischen Bankfilialen ab. Auch hier messen Passanten den Wahlen keine große Bedeutung bei:
"Es wird sich nichts ändern. Das ist mir egal. Denn ich habe mein eigenes Geschäft und bin von niemanden abhängig. Mir ist das völlig wurscht, wer bei den Wahlen gewinnt."
Der 29-jährige Mann hält nichts von dem – wie er meint – "künstlich zusammengehaltenen" Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina. Die sprachliche, kulturelle und wirtschaftliche Nähe zum Nachbarn Serbien ist tief verwurzelt:
"Ich finde, wir sollten selbstständig bleiben, und nicht zur EU gehören und damit nicht zu einem Bollwerk für Westeuropa werden."
Im Stadtpark Petar Kocic vertreiben sich Kleinkinder den Nachmittag, beobachtet von ihren Müttern, die sich im Café mit Freundinnen treffen. Mit einem Rucksack über der Schulter kommt Danijel Simic an den Tisch – ein großer, in schwarz gekleideter Mann, mit kahlrasiertem Kopf und einem kräftigen Vollbart. Danijel Simic ist Journalist des Online-Portals "Frontal", hat eine Biographie über den von ihm verehrten ehemaligen Anführers der bosnischen Serben Radavon Karadzic geschrieben, der vom UN-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag wegen des Massakers von Srebrenica zu insgesamt 40 Jahren Haft verurteilt worden ist. Mit dem Begriff des "Gesamtstaates" Bosnien-Herzegowina kann der 42-jähige Journalist nichts anfangen:
"Ich spreche über Bosnien-Herzegowina nicht von einem Staat, sondern von einer staatlichen Vereinigung, denn gemäß des Abkommens von Dayton haben wir zwei Einheiten, zwei Entitäten. Jede Einheit hatte ihre Armee, ihr Bildungswesen, ihre Wirtschaft und jetzt ist in der Zwischenzeit aus Bosnien-Herzegowina eine Föderation geworden."
Bosnien-Herzegowina sei ein "gescheiterter Staat", stellt Danijel Simic fest. Bosnien-Herzegowina sei ein Gebilde, mit dem niemand zufrieden sei – in allen Landesteilen sei das so. Deshalb hätten die Wahlen auch keine Bedeutung. Alles bleibe so, wie es seit langem sei. Es sei daher längst an der Zeit, das Daytoner Abkommen aufzulösen und damit die Gesamtstaatlichkeit des Landes.