Ein Zeichen gegen "dumpfen Populismus"
Europa atmet auf: Geert Wilders' PVV ist nicht stärkste Kraft bei den holländischen Wahlen geworden. Trotzdem sieht der Historiker Benjamin Zeeb kein Grund zur Entwarnung. Denn die Struktur der EU begünstige Populisten, kritisiert er, und fordert grundlegende Änderungen am System.
Der Geschäftsführer des pro-europäischen Thinktanks "Project for Democratic Union", der Historiker Benjamin Zeeb, begrüßt as das Ergebnis der Parlamentswahl in den Niederlanden.
Die Niederländer hätten sehr klar gemacht, dass sie nicht bereit seien, dem Populismus in den Abgrund zu folgen, sagte Zeeb am Donnerstag im Deutschlandradio Kultur. Auch einen Sieg von Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich hält der Historiker für wenig wahrscheinlich.
Gleichwohl sieht Zeeb die Gefahr der Populismus in Europa noch nicht gebannt: "Das größte Problem ist, dass wir immer noch nicht bereit sind zu erkennen, dass tatsächlich etwas nicht stimmt in Europa."
Mehr EU-Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik
Bürger, die ihre Sorgen bezüglich der EU äußerten, bekämen meist zu hören: "Ach, wissen Sie, Sie haben das nur falsch verstanden. Eigentlich ist alles in Ordnung." Oder sie würden auf die globalisierungsbedingte Sachzwänge verwiesen, gegen die Politik nichts ausrichten könne. "Diese Argumente sind natürlich letzten Endes zu wenig", so Zeeb. "Europas Bürger wollen tatsächlich eine handlungsfähige Regierung, auf die sie sich verlassen können."
Insofern müsse am System der EU etwas geändert werden, forderte der Geschäftsführer von "Project von Democratic Union". So müssten in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie beim Management der Eurozone Kompetenzen nach Europa verlagert werden: "Aber wirklich sehr limitiert auf die Bereiche, wo wir schlicht und ergreifend es auf nationaler Ebene oder auch auf regionaler Ebene nicht anders lösen können", betonte er. "Das heißt, wir müssen der Globalisierung da so begegnen, dass wir handlungsfähig werden als Kontinent."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Vier Londoner Musiker, die eines bald nicht mehr sein werden, nämlich EU-Bürger. Das bleibt den hier Versammelten erspart, unserem Wahlbeobachter Merlijn Schoonenboom und dem Mann, den ich jetzt zum Interview begrüße, den Historiker Benjamin Zeeb, Mitbegründer und Geschäftsführer des "Project for Democratic Union", eines europaweit operierenden Thinktanks, der eine vollständige demokratische Union der Eurozone anstrebt und gemeinsam mit dem irischen Historiker Brandon Simms Autor des Buches "Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa". Guten Morgen, Herr Zeeb! Ihr Telefon höre ich schon – höre ich auch Sie?
Benjamin Zeeb: Ja, guten Morgen!
Frenzel: Guten Morgen. Herr Zeeb, ich nehme das mal auf, Europa am Abgrund. Sind wir mit der gestrigen Wahlnacht einen Schritt weiter weg vom Abgrund?
Zeeb: Zunächst mal ist das natürlich ein uneingeschränkt begrüßenswertes Ergebnis. Die Niederländer haben sehr klar gemacht, dass sie, wenn es wirklich ans Eingemachte geht, also wenn die Systemfrage gestellt wird, dass sie dann nicht bereit sind, diesem doch etwas dumpfen Populismus in den Abgrund zu folgen. Von daher können wir uns natürlich freuen. Aber wir sollten uns nicht zurücklehnen, denn es stehen natürlich noch einige sehr wichtige Wahlen dieses Jahr an. Und auch die Art und Weise, wie die EU momentan strukturiert ist, und insbesondere die Eurozone, spielt den Populisten in die Hände und macht es für die proeuropäischen Kräfte sehr schwierig.
Die Chancen für Le Pen sind "überschaubar"
Frenzel: Premierminister Mark Rutte hatte noch kurz vor der Wahl ein Bild geprägt, dass die Wahl in den Niederlanden für Europa so was wie das Viertelfinale ist.
Mark Rutte: The quarter finals. The half finals will be the French elections, and the finals will be the German elections.
Frenzel: Also Niederlande Viertelfinale, Frankreich Halbfinale, dann Deutschland das Finale. Hat Holland Auswirkungen auf Europa, auch auf diese Wahlen ganz konkret?
Zeeb: Natürlich ist das ein positives Signal, aber leider, kann man nicht sagen, dass dieses einfache Bild vom Viertelfinale so richtig stimmt. Zum einen gibt es da noch Italien, das ich persönlich für das größere systemische Risiko halte als Frankreich, wo wir bei aller Skepsis nach Trump und Brexit sagen können, dass die Chancen, dass Frau Le Pen tatsächlich an die Macht kommt, wohl doch überschaubar sind. Und das zweite Problem ist, selbst wenn wir jetzt, die proeuropäischen Kräfte überall immer gewinnen, dann kommt danach ja wieder die nächste Wahl. Und danach kommt wieder die nächste Wahl. Und solange sich grundsätzlich an dieser Konfiguration in Europa nichts ändert, sind wir in einer Situation, wo diese Populisten immer nur eine einzige Wahl irgendwo in Europa gewinnen müssen, während wir ständig jede einzelne nationale Wahl überstehen müssen. Und das ist natürlich eine ganz furchtbare Dynamik auch auf längere Zeit gesehen.
Die Sorgen der Bürger werden nicht ernst genommen
Schoonenboom: Aber Herr Zeeb, was ist dann das größte Problem? Warum passiert das immer wieder?
Zeeb: Das größte Problem ist, dass wir immer noch nicht bereit sind, zu erkennen, dass tatsächlich was nicht stimmt in Europa. Wenn europäische Politiker konfrontiert werden mit den einzelnen Sorgen der europäischen Bürger, dann hören wir meistens eine von zwei Antworten. Die erste Antwort ist, ach, wissen Sie, Sie haben das nur falsch verstanden, eigentlich ist alles in Ordnung, eigentlich haben Sie Repräsentation, und eigentlich stimmt alles mit der Demokratie und mit dem Wohlstand und mit den Aufstiegschancen und der Opportunität – wir haben das nur nicht richtig kommuniziert. Wir haben da ein Kommunikationsproblem.
Frenzel: Und das zweite?
Zeeb: Das zweite Problem, die zweite Herangehensweise ist, zu sagen, ach, wissen Sie, das ist die Globalisierung, da können wir ja gar nichts machen. Das tut uns furchtbar leid, das sind Kräfte, die außerhalb unserer Handlungsfähigkeit sind. Und beide diese Argumente sind natürlich letzten Endes zu wenig.
Schoonenboom: Und Sie haben die Lösung sozusagen?
Zeeb: Europas Bürger wollen tatsächlich eine handlungsfähige Regierung, auf die sie sich verlassen können.
Schoonenboom: Wie? Das ist natürlich interessant.
"Wir müssen etwas am System verändern"
Frenzel: Indem man es nach Europa verlagert, Herr Zeeb, das ist, glaube ich, Ihr Ansatz, den Sie haben. Sie sagen, wir setzen uns nicht mit diesen Problemen der Wahlen aus – wo, darauf möchte ich noch mal kurz zurückkommen, Herr Schoonenboom, Sie haben das vorhin angedeutet. Wo ja auch die Frage ist, ist das jetzt eigentlich wirklich auch in diesem Fall ein Sieg über den Populismus, oder hat der sich nicht auch jenseits von Wilders ganz gut versteckt?
Schoonenboom: Ja, absolut, ich meine, im ganzen Wahlkampf, bei allen Mittelparteien war eine große EU-Skepsis zu spüren. Keine Europaskepsis, aber EU-Skepsis sehr deutlich anwesend.
Frenzel: Herr Zeeb, was machen wir denn da, wenn das so diffundiert in die etablierten Parteien hinein?
Zeeb: Wir müssen uns klar machen, dass wir am System selbst was ändern müssen. Und das bedeutet, dass wir die Art und Weise, wie wir Souveränität in Europa denken, grundsätzlich verändern müssen. Wir müssen vor allem in zwei Kernbereichen, das eine ist die Außen- und Sicherheitspolitik, und das andere ist das Management der Eurozone und der Wirtschaftspolitik, Kompetenzen nach Europa verlagern, aber wirklich sehr limitiert auf die Bereiche, wo wir schlicht und ergreifend es auf nationaler Ebene oder auch auf regionaler Ebene nicht anders lösen können. Das heißt, wir müssen der Globalisierung da so begegnen, dass wir handlungsfähig werden als Kontinent. Und dann muss man natürlich diese Kompetenzen entsprechend auch demokratisch legitimieren.
Eine demokratisch legitimierte EU-Regierung
Frenzel: Genau. Wir globalisieren also idealerweise auch die Demokratie, indem wir sie erweitern. Jetzt haben wir aber das Phänomen, Geert Mak, der holländische Schriftsteller hat das gestern hier bei uns im Programm gesagt, die Leute haben offenbar ein ganz starkes Bedürfnis nach Heimat. Wenn das immer weiter weg ist, also auch geografisch, ist das nicht ein Problem, ein Dilemma, aus dem wir nicht rauskommen?
Zeeb: Nein, das ist kein Widerspruch. Wir müssen nicht einfach das Prinzip des Nationalstaats extrapolieren und eins zu eins auf die europäisch Ebene übertragen. Das ist ein Konzept des 19. Jahrhunderts, und ich glaube, jeder Versuch, das zu tun, ist zum Scheitern verurteilt. Wenn wir da anfangen würden, europäische Identitätspolitik zu machen – Sie kennen dieses ganze Gerede von der europäischen Zivilgesellschaft, die angeblich fehlt. Das sind alles Konzepte aus dem nationalstaatlichen Kontext. Nein, wir müssen schauen, dass wir unsere Identitäten in Europa ruhig behalten, auch das Motto der Europäischen Union, Einheit in Vielfalt, ist ja überhaupt gar nicht verkehrt. Nur müssen wir halt in den Bereichen, wo wir allein nicht mehr können, wirklich handlungsfähig werden. Und das bedeutet halt eine limitierte, aber durchschlagskräftige Regierung auf europäischer Ebene, die wir auch demokratisch legitimieren.
Frenzel: Eine Forderung von Benjamin Zeeb, Mitbegründer des Project for a Democratic Union. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Kollege: Vielen Dank!
Zeeb: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.