Bist du für oder gegen Premier Netanyahu? – Um diese Frage dreht sich alles bei der bevorstehenden Parlamentswahl in Israel, sagt Korrespondent Benjamin Hammer. Die einen wollen ihn wegen Korruption und Betrugs abwählen und vor Gericht gestellt sehen, die anderen loben ihn für sein Vorgehen in der Coronakrise und als internationalen Staatsmann, der mit arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten oder dem Sudan Friedensverträge geschlossen hat. Das ganze Gespräch hören Sie am Ende dieser Weltzeit.
Geeint im Kampf gegen Corona?
22:13 Minuten
In Israels Krankenhäusern kämpfen jüdische und arabische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam gegen das Coronavirus. Das Miteinander könnte Vorbildfunktion für die bisher so gespaltene Gesellschaft haben.
"Das ist das Kontrollzentrum. Unsere Stationen sind im unterirdischen Parkhaus, und hier wird jede Station überwacht, die Monitore der Patienten, der Schwerkranken."
Hitam Hussein ist die Leiterin aller Corona-Abteilungen im Rambam-Krankenhaus in der israelischen Hafenstadt Haifa. Nachdem es im letzten Libanonkrieg 2006 beschossen wurde, hat man sein unterirdisches Parkhaus so umgebaut, dass es im Notfall als Ersatzkrankenhaus dienen kann. Nun ist der Notfall da, wenn auch anders als geplant.
"Hier oben werden die Stationen mit der Außenwelt verbunden, wir haben ein Kommunikationsnetz. Falls wir hier was bemerken, was die Kollegen unten übersehen, können wir es ihnen sagen."
Als im September 2020 die Zahl der Corona-Patienten in die Höhe schoss, wurden die Corona-Stationen des Krankenhauses in das unterirdische Notkrankenhaus verlegt. Die stämmige Mitvierzigerin steht mitten im Kontrollzentrum, das im ersten Stock ist, beobachtet gewissenhaft die Monitore und Bildschirme an den Wänden.
"Ich komme aus einer drusisch-arabischen Familie mit fünf Kindern. Ich wollte immer Medizinerin sein, studierte dann in Jerusalem, machte mein praktisches Jahr hier, in Rambam, und blieb auch gleich da. Mein Fach sind Infektionskrankheiten, dazu gehört auch Corona. Ich war von Anfang an dabei, und während der ersten Sitzung sagte der Krankenhausleiter, Hitam wird die Corona-Station leiten. Corona-Patienten zu behandeln, war am Anfang kein großes Glück! Aber ich erfahre hier große Anerkennung, keiner behandelt mich anders, weil ich aus einer Minderheit komme."
"Man spürt keine Unterschiede"
Mitte September meldete Israel eine der höchsten Covid-19-Neuinfektionsraten der Welt – gemessen an seiner Bevölkerungsgröße. An der vordersten Front gegen die Pandemie: die jüdischen und arabischen Israelis, die gemeinsam im Gesundheitssektor arbeiten.
"Wie ich immer sage: Wenn sich doch das ganze Land ein Beispiel am Rambam-Krankenhaus nehmen würde! – Hier sind Juden und Araber zusammen. Man spürt keine Unterschiede, vor allem in den letzten Monaten. Wir passen auf uns gemeinsam auf, stehen zusammen, zerbrechen zusammen, erholen uns zusammen. Das ist unglaublich. Wenn es draußen auch so wäre, wären wir schon längst weiter."
Etwa 20 Prozent des medizinischen Personals an israelischen Krankenhäusern gehören der arabischsprechenden Minderheit in Israel an – Palästinenser, Drusen, Beduinen. Anders als die Palästinenser in den besetzten Gebieten haben sie einen israelischen Pass. Schon vor Corona übten viele von ihnen Leitungsfunktionen im Gesundheitssystem aus, zwei öffentliche Krankenhäuser werden von arabischen Ärzten geleitet. Die Corona-Pandemie machte ihre Arbeit sichtbar. Aber schon bei den Maßnahmen, die ergriffen wurden, um das Virus einzudämmen, tat sich wieder die Kluft auf, zwischen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft und ihren arabischen Minderheiten, meint die Ärztin Hitam Hussein.
"So wie öffentlich aufgeklärt wurde zum Beispiel, das war für die arabische Gesellschaft nicht umzusetzen. Das erste Aufklärungsvideo der Regierung kam erst am Ende der ersten Welle. Und in jedem Forum sage ich: Wir reden nicht nur über jüdische Tel Aviver Familien: Eltern, zwei Kinder und ein Hund. Wie soll man Abstand halten in Großfamilien, die zusammenwohnen. Das geht nicht!"
Einerseits zeigt Corona, dass das israelische Gesundheitssystem eine Insel der relativen Gleichheit anbietet. Gleichzeitig verdeutlicht aber die Pandemie die ungleiche Behandlung der arabisch sprechenden Minderheit im Land.
Die Probleme der arabischen Gesellschaft bleiben
In Tayyibe, einer der größten Städte der arabischen Minderheit in Israel, steht eine Filiale von Na´amat, der Frauenorganisation des israelischen Gewerkschaftsbundes.
"Die Coronakrise ist auch eine ökonomische, gesellschaftliche Krise. Klar, die arabischen Ärzte sind jetzt sichtbarer, sie sind an der Corona-Front. Aber die restlichen Probleme der arabischen Gesellschaft werden beiseitegeschoben. Keiner redet über die arabischen Kommunen, die schon vor Corona pleite waren. Oder über Gewalt gegen Frauen. Die Anzahl von Frauen, die häusliche Gewalt erfahren, schnellt in die Höhe. Es gibt einen 300 prozentigen Anstieg, was die Anrufe bei Hilfszentren betrifft. Das macht mir Angst. Was wird aus diesen Problemen? Was machen wir damit?", fragt Maisam Jaljuli, die das Frauen-Zentrum leitet, nicht nur sich selbst. Die energische Mitvierzigerin ist Mitglied der arabisch-jüdischen, sozialistischen Partei Hadash.
"Es gibt keine israelische Nation. Der Staat beruht auf Trennung, nicht auf Gemeinsamkeiten. Der Staat definiert sich als der Staat der Juden, und die arabisch-palästinensische Nation ist nicht mal offiziell anerkannt. Das ist Israels Problem. Es will nicht einsehen, dass es hier zwei Nationen gibt, die es zu verbinden gilt, um eine neue Nationalität zu schaffen. Wir sind doch alle Israelis."
Maisam Jaljuli ist Palästinenserin mit israelischem Pass. Sie erinnert sich noch gut daran, als die von Benjamin Netanyahu geführte Regierung 2018 das sogenannte "Nationalstaatsgesetz" verabschiedet hat. Es schränkt die kollektiven Rechte der arabischen Minderheit massiv ein. Die seit einigen Jahren zunehmende Bereitschaft der Regierung, die arabische Minderheit verstärkt in die israelische Wirtschaft zu integrieren, basiert für Jaljuli auf einem ökonomischen Kalkül und nicht auf einem Gleichheitsideal.
Regierung hetzt gegen Araber
"Netanyahu versteht Wirtschaft, und weiß, dass er die arabische Minderheit fördern muss, um die israelische Gesellschaft zu entwickeln. Als Israel in die OECD aufgenommen wurde, war eine ihrer Forderungen, die 20 Prozent der Bevölkerung, die durch die Regierungspolitik benachteiligt werden, verstärkt zu fördern. Das macht Netanyahu nicht, weil er uns einen Gefallen erweisen will. Diese Regierung hetzte wie keine zuvor gegen die arabische Bevölkerung."
Jaljuli studierte Kriminologie, Soziologie und pädagogische Führung, und ist Vorstandsmitglied in einer Reihe jüdisch-arabischer Organisationen, die sich für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe einsetzen. Vor allem die jüdisch-arabische Solidarität unter Frauen treibt sie an.
"Wir Frauen haben vorgemacht, wie Kooperation geht! Der erste Frauenstreik in Israel 2018 war ein jüdisch-arabischer Streik! Wir haben im ganzen Land gegen die Gewalt an Frauen gestreikt. Zum ersten Mal seit Jahren gab es einen feministischen Protest auf Augenhöhe, Jüdinnen und Araberinnen, auf Hebräisch und Arabisch auf allen Bühnen, auch im Herzen Tel Avivs."
Zuerst also die Frauen, jetzt die Mitarbeitenden im Gesundheitssystem? Sie sehen die Diskrepanz zwischen dem, was arabische Ärztinnen und Ärzte im Kampf gegen Corona leisten, und der strukturierten Benachteiligung der arabischen Bevölkerung in Israel. Diese Diskrepanz führte im März 2020, zu Beginn der Krise, dazu, dass 600 jüdische und arabische Medizinerinnen und Mediziner einen Aufruf veröffentlichten:
"Wir, arabische und jüdische Medizinerinnen und Mediziner, die gemeinsam an der Corona-Front kämpfen, protestieren gegen die Hetze und den Rassismus in den politischen öffentlichen Debatten. Gemeinsam haben wir studiert, gemeinsam retten wir Menschenleben. Unser hippokratischer Eid verbietet es uns, zwischen Blut und Blut zu unterscheiden. Dies muss auch für unsere Gesellschaft gelten."
"Wir stecken alle gemeinsam in der Coronakrise"
"Die Tatsache, dass Araber ein Fünftel des medizinischen Personals in den Krankenhäusern stellen, auch in Leitungspositionen, ist ermutigend. Andererseits gibt es Themen wie Gewalt, Beschäftigung, Zugang zu Dienstleistungen und zur Bildung, die komplizierter sind. Dass wir alle gemeinsam in der Coronakrise stecken, verdeutlicht, dass es keine Inseln gibt, dass es nicht meine und deine Probleme gibt, sondern nur gemeinsame Probleme", sagt die gelernte Ökonomin Yael Mevorach, die das Ministerium für soziale Gleichheit leitet.
Das Thema "Gleichberechtigung der arabischen Minderheit" ist momentan ein heißes politisches Eisen, während Israel – zum vierten Mal innerhalb von zwei Jahren – vor einer Parlamentswahl steht. Auch Mevorach meidet die politische Frage der Gleichberechtigung, findet aber zugleich die wirtschaftliche Förderung der arabischen Minderheit unabdingbar. Sie bleibt optimistisch.
"Wir schauen als Regierung, wie wir die Wirtschaft wieder zum Laufen bringen, aus der Krise kommen, und das wäre wesentlich schwieriger ohne die arabische Bevölkerung. Der Wille ist da, und unser Ziel, das Ziel der ganzen Regierung, ist, diesen Willen in Taten umzusetzen."
Das Kontrollzentrum des Gesundheitsministeriums, unweit des Flughafens Tel Aviv. Von hier aus wird die gesamtisraelische Corona-Bekämpfung koordiniert: Lockdowns, Impfkampagnen, Grenzkontrollen. Hier koordiniert auch Aiman Saif als Leiter die Corona-Bekämpfung im arabischen Sektor.
"Man muss die Besonderheit der arabischen Bevölkerung verstehen, ihre Probleme, um unsere Politik für diese spezifische Bevölkerung anzupassen. Es gibt Dinge, die gelten für alle, andere wiederum gelten nur für die arabische Gesellschaft, das Thema der Hochzeiten zum Beispiel oder religiöse, kulturelle Themen. Und hier bieten wir passgenaue Lösungsansätze für die arabische Gesellschaft an."
Impfskepsis bei Arabern groß
Das aktuelle Thema im Kontrollzentrum heißt Impfungen. Doch während mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung sich bereits hat impfen lassen, bleibt die Impfskepsis unter den arabischen Staatsbürgern groß.
"Sie sagen, wir glauben euch nicht, ihr seid von der Regierung. Es gibt viele Impfgegner. Also rekrutieren wir die Familienärzte vor Ort, bekannte Figuren, und gehen von Tür zu Tür."
Der 52-jährige Saif gehört selber zur arabischen Minderheit in Israel. Er studierte Wirtschaft und internationale Planung in Bamberg und an der Clark University. 2008 gründete er auf Bitten des ehemaligen Ministerpräsidenten und Vorgängers Netanyahus, Ehud Olmert, die Behörde zur wirtschaftlichen Förderung des sogenannten Minderheitensektors. Wie kaum ein anderer kennt er die scheinbare Schizophrenie der israelischen Regierung im Umgang mit der arabischen Minderheit im Land, zwischen wirtschaftlicher Förderung und nationaler Diskriminierung.
"Keine Regierung investierte in die arabische Gesellschaft soviel wie die jetzige. Aber die gleiche Regierung griff sehr oft die arabische Bevölkerung an, mit sehr harten Aussagen, mit dem Nationalstaatsgesetz. Wie ich das sehe, glaubt Netanyahu an die wirtschaftliche Integration, gleichzeitig hetzt diese Regierung gegen die arabische Bevölkerung wie keine andere zuvor."
Und dennoch, trotz dieser negativen Ausgangslage, sieht Saif die Arbeit der arabischen Mediziner und Medizinerinnen bei der Corona-Bekämpfung als Chance.
Die Ärzte, die Krankenpfleger, sie stehen an der Front, sie sind medial sichtbar und machen eine wunderbare Arbeit, Juden und Araber, die gemeinsam arbeiten. Es ist eine Chance, wir müssen sie als arabische Gesellschaft ergreifen.
Corona schafft Gleichheit
Zurück im Rambam-Krankenhaus. Der Rabbiner Mike Schultz aus Boston leitet hier das kleine Team der spirituellen Begleiter, die Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts unterstützen. Darunter auch Corona-Opfer.
"Eine muslimische Begleiterin fing neulich ein Gespräch mit einem jüdischen Patienten an, und obwohl sie einen klaren arabischen Akzent hat, erkannte er das nicht. Es entstand eine schöne Verbindung zwischen beiden, bis er sagte, ich freue mich, auf diese Station verlegt worden zu sein, die vorherige Station war voller Araber. Als er später doch erkannte, dass sie Araberin war, guckte er sie nicht mehr an. Sie verabschiedete sich ruhig von ihm, sagte, ich bin eine Muslima, und ich hoffe, dass du bald wieder gesund wirst. Kurz darauf kam eine Krankenschwester zu ihr, weil dieser Patient nach ihr verlangte. Als sie zu ihm reinkam, bat er sie, mit ihm zu beten. Seine unmittelbare Reaktion war voller Hass. Er dachte zuerst, ein Muslim sei immer der Feind, dann begriff er, hier ist eine muslimische Frau, die ihren Stolz bewahrte und sich gleichzeitig um ihn kümmerte.
Werden solche Erfahrungen die Coronakrise überdauern? Wird die erlebte Gleichheit zwischen Juden und Arabern, Ärzten und Patienten nach dem Ende der Pandemie auch außerhalb der Krankenhäuser gelten?
"Die Krankheit schafft Gleichheit. Alles was uns unterscheidet – die Krankheit interessiert sich nicht dafür. Ich sage nicht, das Krankenhaus ist ein idealer Ort, frei von Spannungen. Aber hier kann eine wahre Begegnung entstehen. Hier kann man sich kennenlernen und sich respektieren lernen."
So wie Rabbiner Schultz ist Hitam Hussein, die Leiterin der Corona-Abteilungen im Rambam-Krankenhaus in Haifa, ebenfalls optimistisch, wenn auch verhalten.
"Vielleicht hat Corona verdeutlicht, dass wir ein Schicksal teilen. Das hoffe ich. Wir können als arabische Mediziner zeigen, wir sind keine Last, im Gegenteil, wir sind Partner, in allen Bereichen. Wir leben nicht in einer Blase, sondern gemeinsam. So ist es."