Wahlchaos in Berlin

"Det biegen wir jetzt noch um!"

03:56 Minuten
Zahlreiche Menschen stehen in einer langen Schlange vor den Wahllokalen im Tiergarten Gymnasium in der Altonaer Straße in Berlin.
Warteschlange bei den Wahlen in Berlin: Wie man das Wahlbeobachtern etwa aus Panama oder dem Kongo erklärt, fragt sich Moritz Rinke. © picture alliance / dpa / Monika Skolimowska
Ein Einwurf von Moritz Rinke |
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Wählen ist an sich eine einfache Sache: Kreuze auf Stimmzetteln machen, dann auswerten. Nicht so in Berlin, wo am vergangenen Sonntag das nackte Chaos herrschte. Der Autor Moritz Rinke hat dabei gelernt, wie Demokratie funktioniert. Oder auch nicht.
Meine Stimmen hatte ich am Wahlsonntag um 18 Uhr 05 abgegeben, nach 75 Minuten Wartezeit. Ich rannte aus dem Wahllokal und sah meinen Nachbarn in der Schlange stehen, die sogar noch länger war, als die Schlange, an der ich mich zum Wählen angestellt hatte.
Ich rannte in meine Wohnung, die genau gegenüber vom Wahllokal liegt, und schaltete den Fernseher an.

Schlange stehen auch nach der Prognose

Die Prognose hatte ich schon verpasst, ich wartete auf die erste Hochrechnung. Danach öffnete ich das Fenster und rief aus dem 4. Stock meinem Nachbarn in der Schlange zu: SPD knapp vorne, CDU dahinter, die Linke unter 5 Prozent, für Rot-Rot-Grün wird es wohl nicht reichen.
"Ach du Scheiße!", schrie mein Nachbar, "dann wähle ich was anderes!"
"Aber du wolltest doch die Sozialdemokraten wählen?", rief ich über die Straße.
"Ja, aber ich will keine Ampel! Schon gar kein Jamaika! Auf keinen Fall Lindner, Lindner bitte nicht!"
"Det biegen wir jetzt noch um!", schrie einer in der Schlange und ballte die Faust. Die anderen Wählerinnen und Wähler sahen stumm zu mir hoch, einige verließen die Schlange und gingen weg.

Stimmzettel nur noch als Teilsortiment

Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn Wahlbeobachter aus dem Kongo, aus Bolivien oder aus Panama gekommen wären, um zu sehen, wie die deutsche Hauptstadt wählt, wie man so etwas überhaupt durchführt: demokratische Wahlen.
Vielleicht so: "Wer noch will, kann reinkommen und wählen, was noch übrig ist", erklärte ein Wahlhelfer in der Münsterschen Straße in Charlottenburg, der nur noch ein Teilsortiment an Stimmzetteln führte.
In einem Wahllokal in der Schwedter Straße am Prenzlauer Berg konnte man sich mühelos noch nach 18 Uhr in der Schlange anstellen, in einem Wahllokal im selben Bezirk wurden die Wahlberechtigten weggeschickt, ebenso in Neukölln und anderswo, obwohl sie vor 18 Uhr in der Schlange angestanden hatten.

Wahl und Marathon kollidieren

Beherzte Wahlhelfer setzten sich auf Fahrräder, um sogar vertauschte Stimmzettel in die richtigen Bezirke zu bringen, aber sie kamen wegen des Marathons nicht durch, der unbedingt gleichzeitig stattzufinden hatte.
In manchen Bezirken kam es an Querungsstellen zu Kollisionen von Wählerinnen und Wählern mit Marathonläufern: Die einen wollten wählen, die anderen laufen, am Ende brauchte man Sanitäter.
Wie erklärt man so etwas Wahlbeobachtern aus Panama oder aus dem Kongo? Probleme mit der Digitalisierung? Trotz analoger Stimmzettel, die man nach Adam Riese so oft in der zuständigen Druckerei hätte vervielfältigen können, bis sie für die Wahlbevölkerung Berlins gereicht hätten? Oder lag es an den ausfahrenden Speditionen? Russische Fahrer? Cyberattacken aus Moskau oder Peking? Oder ist Corona schon wieder schuld, trotz 32 Prozent Briefwählern in Berlin?
Vielleicht war auch einfach der Sonnenschein am Wahlsonntag schuld! Die hohe Wahlbeteiligung!

Vier Mal wählen – wohl zu viel für die Hauptstadt

Im Grunde: Zu viel Demokratie ist schuld! Zu viele Stimmenzettel, zu viele Parteien, zu viel Wahl. Abgeordnetenhaus wählen, Bezirksverordnetenversammlungen wählen, dazu noch ein Volksentscheid, ja oder nein?
Die Landeswahlleiterin ist nun von ihrem Amt zurückgetreten. Die Senatsinnenverwaltung – sie hat immerhin die Rechtsaufsicht über die Landeswahlleitung – sieht sich allerdings nicht in der Pflicht, das Wahlchaos aufzuklären, ganz abgesehen vom noch Regierenden Bürgermeister, der einfach nur schweigt.
Ob die Wahl nun zum Beispiel in Pankow, Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg oder Charlottenburg-Wilmersdorf wiederholt werden muss, werden vermutlich in den nächsten Wochen Gerichte klären.
Um das nächste Chaos zu vermeiden, könnte man vielleicht die Berliner Wahl an externe Behörden auslagern, vielleicht ja nach Panama outsourcen. Die Frage ist nur, wie wir da alle aus Pankow und Wilmersdorf klimaneutral hinkommen?
Oder wir bleiben einfach nach der Wahl für immer dort, in Panama!

Moritz Rinke, Jahrgang 1967, ist "einer der letzten Dramatiker mit theoretisch spielbaren Theaterstücken" (Selbstaussage), schreibt aber auch Feuilletons und Romane. Eben erschienen: "Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García" im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Der Schriftsteller Moritz Rinke
© dpa / picture-alliance / Ole Spata
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