Wahlen in der Türkei

"Erdogan sagt offen, dass er mehr Macht will"

Anhänger der Gülen-Bewergung protestieren am Dienstag vor dem Gebäude der Koza Ipek Mediengruppe in Istanbul, an dem eine riesige türkische Fahne hängt
Anhänger der Gülen-Bewergung protestieren am Dienstag vor dem Gebäude der Koza Ipek Mediengruppe in Istanbul © picture alliance / dpa / Cem Turkel
Isabella Kolar im Gespräch mit Thomas Bormann · 29.10.2015
Recep Tayyip Erdogan hat zwei regierungskritische Sender schließen und das Gebäude der Koza-Ipek-Mediengruppe stürmen lassen. Läuft der türkische Präsident Amok -so kurz vor den Wahlen am 1. November? Seine Anhänger begrüßen seinen Kampf gegen die Kritiker, sagt unser Korrespondent Thomas Bormann.
Isabella Kolar: Tatort Istanbul gestern morgen. Die türkische Polizei stürmt das Gebäude der regierungskritischen Koza-Ipek-Mediengruppe. Sicherheitskräfte mit Bolzenschneidern, Wasserwerfern und Tränengas sind im Einsatz, und im Ergebnis werden zwei regierungskritische Sender abgeschaltet. Thomas Bormann, unser Korrespondent in Istanbul: Läuft der neue "James Bond" schon in der Türkei oder läuft Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auch so schon Amok?
Thomas Bormann: Also der neue "James Bond", der kommt ja erst am 6. November in die Kinos, aber für Präsident Erdogan ist der Tag der Abrechnung bereits der 1. November, nämlich der kommende Sonntag, der Wahltag, und da bringt sich Erdogan in Stellung – wenn es sein muss eben auch, ja, mit Bolzenschneider und Wasserwerfer. Denn Erdogan hat das Wahlvolk hier ganz unverblümt aufgefordert, für stabile Verhältnisse in der Türkei zu sorgen, und das geht laut Erdogan nur, wenn die islamisch-konservative Partei AKP wieder die absolute Mehrheit im Parlament erringt.
Und zu diesen stabilen Verhältnissen à la Erdogan zählt eben auch, dass die politischen Gegner nichts mehr zu melden haben. Deshalb also dieser Feldzug gegen den Medienkonzern Koza Ipek. Der Konzern hat offenbar Verbindungen zum islamischen Gelehrten Fethullah Gülen, und die Bewegung von Fethullah Gülen, die ist aus der Sicht der türkischen Regierung mittlerweile eine Terrororganisation. Und wer nun eine Terrororganisation unterstützt, gegen den müsse halt auch mit aller Härte der Justiz vorgegangen werden. Deshalb also, aus Sicht Erdogans war das jetzt kein Amoklauf, sondern, ja, ein juristischer Zug gegen den Medienkonzern Koza Ipek.
Der türkische Präsident Erdogan.
Der türkische Präsident Erdogan.© dpa/picture-alliance/Martti Kainulainen
Kolar: Und es gibt schon Drohungen gegen weitere Medien, wie etwa die Zeitung " Hürriyet".
Bormann: Ja, da gab's gestern und auch vorgestern schon ziemlich viel Begleitmusik von AKP-Politikern, die gesagt haben, wenn wir dann nach dem 1. November die absolute Mehrheit wiederhaben im Parlament, dann werden wir auch andere Medien zur Rechenschaft ziehen. Das sind Zeitungen wie "Hürriyet" oder auch "Cumhuriyet" oder "Zaman", Zeitungen, die noch sehr kritisch berichten, die noch erscheinen dürfen, die aber auch bereits jetzt schon mit Prozessen überzogen werden, deren Journalisten verfolgt werden – es gab sogar schon einen Fall, dass einem Journalisten aufgelauert wurde und zusammengeschlagen wurde –, also da könnte es nach dem 1. November dann noch schlimmer kommen für die Pressefreiheit.
Kolar: Dazu muss er aber erst mal gewinnen. Kann man mit einer solchen Aktion wie der gestrigen so kurz vor einer Wahl noch etwas reißen, beziehungsweise sieht es jetzt nicht so aus, als ob sich die Opposition in ungewohnter Weise solidarisiert, also der Schuss nach hinten losgeht?
Bormann: Ja, also ich glaube, zunächst einmal will die Regierung eben auch Stärke zeigen, und das kommt bei den eigenen Anhängern an, die finden das richtig, dass sich der Staat, wie es eben heißt, gegen Terroristen wehrt, so die Botschaft, aber auf der anderen Seite war das gerade gestern auch ein sehr starkes Bild. Die vielen Gegner Erdogans haben sich eben auch in Stellung gebracht, sie protestieren umso lauter und werfen der Regierung und eben auch der Justiz vor, sie suche nur einen Vorwand, um regierungskritische Sender zum Schweigen zu bringen und zu schließen. Gestern waren ja Vertreter von allen drei großen Oppositionsparteien im belagerten Sendegebäude.
Sie haben es geschafft, durch die Polizeiabsperrungen in den Regieraum hineinzukommen, sie haben sich interviewen lassen und dann über den noch nicht abgeschalteten Sender geklagt, diese Belagerung des Medienhauses Koza Ipek sei ein Angriff auf die Demokratie, ein Angriff auf die Pressefreiheit, und der Regierung sei quasi jedes Mittel recht und jeder Vorwand lieb, vor allem eben dieser Vorwand der Terrorismusunterstützung, politische Gegner zum Schweigen zu bringen. Also die Stimmen der Opposition, die waren gestern sehr laut. Die beiden Lager – Erdogan-Befürworter und Erdogan-Gegner – haben sich gestern anhand dieses Konflikts um das Medienhaus noch mal ordentlich in Stellung gebracht, und ja, abgerechnet wird nun am Sonntag, welches Lager denn größer ist.
Erdogan sieht die Mehrheit hinter sich
Kolar: Einer der Betroffenen sprach ja gestern auch von einem AKP-Staat, den solche Aktionen zum Ergebnis haben, aber ist das nicht vielmehr ein autoritärer Erdogan-Staat, den wir hier haben, war das nicht einfach ein Alleingang?
Bormann: Ja, das ist letztlich kein großer Unterschied, AKP-Staat oder Erdogan-Staat, denn Erdogan ist nach wie vor die überragende Person in der türkischen Politik und eben auch in der AKP der islamisch-konservativen Partei, die Erdogan ja mit gegründet hat. Erdogan selbst sagt auch ganz offen, dass er mehr Macht will. Er sagt: Ich, Recep Tayyip Erdogan, wurde mit 52 Prozent der Stimmen der türkischen Wähler zum Staatspräsidenten gewählt. Und daraus zieht Erdogan das Recht, dass die Mehrheit hinter ihm steht und dass er also die Richtlinien der Politik bestimmen darf, und da bleibt wenig Platz für Kritik.
Erdogan sagt auch ganz offen, dass er eine neue Verfassung will, die dem Präsidenten mehr Macht gibt, und deshalb hofft Erdogan, dass das Wahlvolk seinen, in Anführungsstrichen, "Fehler" vom Juni nicht wiederholt – so hat es Erdogan wirklich genannt. Er hat gesagt, das Wahlvolk habe im Juni einen Fehler begangen, indem es der islamisch-konservativen AKP eben nicht die absolute Mehrheit gebracht habe, und diesen Fehler könne das Wahlvolk nun am kommenden Sonntag korrigieren. Also Erdogan sieht das so, ein AKP-Staat, ein Erdogan-Staat wäre das Beste für die Türkei, da steht er ganz offen dazu, auch wenn der Widerstand dagegen natürlich riesengroß ist und sich auch immer mehr formiert.
Kolar: Noch ein Wort zur EU: Sie findet die Ereignisse in Istanbul gestern, Zitat, "beunruhigend", aber EU-Kommissionspräsident Juncker bekräftigt gleichzeitig, dass eine Zusammenarbeit mit Ankara in der Flüchtlingskrise unumgänglich sei. Glaubt Erdogan, jetzt walten und schalten zu können, wie er mag, weil sich die Europäer einen Maulkorb verpasst haben?
Bormann: Ja, ich denke, weitgehend ist das so. Erdogan lässt sich eh schon lange nicht mehr davon beeindrucken, wenn EU-Politiker ihn kritisieren. Er ignoriert das oder schlägt mit harten Worten zurück. Und gerade in der Flüchtlingsfrage sieht sich Erdogan in einer sehr starken Position, gerade auch moralisch starken Position, weil die Türkei allein ja viel mehr Flüchtlinge aufgenommen hat aus Syrien als die gesamte EU zusammen. Und man hat auch in den letzten Wochen gemerkt, dass es Erdogan genossen hat, dass Kanzlerin Merkel und andere EU-Politiker nun als Bittsteller zu ihm kommen, weil die EU-Länder eben die Türkei als Partner brauchen, um irgendwie die Flüchtlingsbewegungen zu begrenzen. Also Kritik aus Brüssel oder Berlin, die prallt derzeit an Erdogan ab.
Kolar: Was sagen die Umfragen? Wird die AKP dieses Mal, am Sonntag, die Mehrheit knacken?
Bormann: Also es sieht nicht danach aus. Alle Umfragen der vergangenen Wochen zeigen, dass sich das Wahlergebnis vom Juni wahrscheinlich wiederholen wird. Man kann sich nicht so ganz auf diese Umfragen verlassen, es kann also Sonntag Überraschung geben, aber bisher sagen alle Umfragen, die islamisch-konservative AKP wird die absolute Mehrheit wieder verfehlen und bei um die 40 Prozent liegen, und die pro-kurdische HDP, die wird hier die in der Türkei geltende Zehn-Prozent-Hürde wieder überspringen. Wahrscheinlich wird nun Erdogan nicht zum dritten Mal das türkische Wahlvolk aufrufen, ein neues Parlament zu wählen, wahrscheinlich wird es diesmal dann Koalitionsverhandlungen geben. Die nationalistische Oppositionspartei MHP hat auch schon zu erkennen gegeben, dass sie zumindest zu Koalitionsverhandlungen bereit wäre. Also das könnte das ähnliche Ergebnis am 1. November geben wie am 7. Juni, aber diesmal hoffentlich mit einer Regierung, die es dann nach einigen Wochen geben wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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