Künstler auf Stimmenfang
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Die Politik durchdringt in der Ukraine den Alltag – auch die Popkultur. Doch einige Künstler versuchen, den Spieß umzudrehen. Am Sonntag könnte der Kabarettist Wolodymyr Selenskyj sogar in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl einziehen.
Die Siegerin des Vorausscheids für den Eurovision Song Contest, Maruv, weigerte sich, den Vertrag zu unterschreiben, den ihr die nationale Fernsehanstalt vorlegte. Sie fühle sich durch dessen Klauseln in ihren bürgerlichen Freiheiten beschnitten, sagte sie. Ein Punkt in dem Vertrag war, dass sie vorerst nicht in Russland auftreten darf – wegen des Kriegs im Donezbecken.
Knebelvertrag für Sängerin
Aber Künstlerinnen und Künstler in der Ukraine sind längst nicht mehr nur Spielball der Politik, sie werden zu Akteuren. Gegen Maruv positionierte sich Andrij Danylko, der als "Verka Serduchka " beim ESC 2007 den zweiten Platz geholt hatte. Auf die Seite von Maruv stellte sich dagegen der 41-jährige Kabarettist Wolodymyr Selenskyj. In einem mit dem Smartphone aufgenommenen Clip griff er die Haltung der Regierung an:
"Schmuggelgeschäfte mit Russland, das ist für unsere Mächtigen kein Problem. Und der Präsident darf die Erzeugnisse seiner Schokoladenfabrik dort verkaufen. Aber Maruv darf gar nichts."
Schauspieler will Präsident werden
Selenskyj sagte das nicht nur als Kabarettist, sondern auch als Kandidat für die Präsidentenwahl am Sonntag. An ihr nimmt er nicht nur teil: Er liegt in den Umfragen sogar deutlich vorn. Es gilt als sicher, dass er mindestens in die Stichwahl in drei Wochen kommt. Noch zum Jahreswechsel hätte damit in der Ukraine kaum einer gerechnet, sagt Oleksij Musiezdow, Soziologe an der Universität Charkiw:
"Selenskyj zieht die Menschen an, die gegen die politischen Eliten protestieren wollen. Die etwas ganz Neues wollen. Aber nicht nur diejenigen zieht er an, die von den Umwälzungen vor fünf Jahren, vom Maidan, enttäuscht sind. Selenskyj ist auch attraktiv für alle, die sich nach mehr Stabilität sehnen."
Selenskyj punktet so einerseits bei jungen Leuten. Andererseits bei den russischsprachigen Wählern in der Ostukraine. Ihnen hat er versprochen, er werde das direkte Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin suchen und so den Krieg im Donezbecken beenden.
Ohne Programm in den Wahlkampf
Selenskyj ist erfolgreich, obwohl er keinen Wahlkampf im klassischen Sinn macht. Vielmehr tritt er weiterhin mit seiner Kabaretttruppe auf. So am vergangenen Wochenende in Charkiw, verschmitzt rief er seinen Fans zu:
"Das ist ein Konzert heute, kein Wahlkampf. Das wäre doch eine Frechheit, wenn Ihr noch dafür zahlen müsstet, dass ich Wahlkampf mache."
In seiner Show macht Selenskyj dann, was er am besten kann: Er macht sich über amtierende Politiker lustig, mit Sketchen und Spottliedern. Dass er selbst noch gar kein Programm hat, scheint seine Anhänger nicht zu stören.
Aber nicht nur Selenskyj, auch andere Künstler mischen im Wahlkampf mit. So Swjatoslaw Wakartschuk, Sänger und Kopf der Band "Okean Elzy". Vor wenigen Tagen sagte er:
"Ich unterhalte mich mit verschiedenen Politikern, auch mit dem Präsidenten. Das tue ich als besorgter Bürger, der Veränderungen möchte. Ein Beispiel ist der geplante Antikorruptionsgerichtshof, für den ich eintrete. Wir brauchen ihn als unabhängige Institution."
Gespaltenes Land
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Wakartschuk selbst zur Präsidentenwahl antreten wollte. Umfragen räumten ihm aber keine Chance ein.
Wakartschuk steht für die westliche Ukraine, Selenskyj für den Osten des Landes, wo viele Menschen den Nachbarn Russland weiterhin positiv sehen. Selenskyj als Präsident – das wäre in vieler Hinsicht ein gewagtes Experiment für die Ukraine. Doch manche meinen, dass gerade ein populärer Künstler die Menschen aus allen Teilen des Landes miteinander verbinden kann.