Wahlen in Großbritannien

Brexit ohne Vision

Die britische Premierministerin Theresa May hat bei einer überraschenden Ansprache Neuwahlen angekündigt.
Theresa May kündigt vorgezogene Parlamentswahlen an. © imago
Von Erik Albrecht |
Heute finden in Großbritannien Stadtratswahlen statt. Sie sind der letzte Stimmungstest vor den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni. Premierministerin Theresa May verspricht sich davon mehr Stabilität für den Brexit. Sie drohen das Land weiter zu spalten, sagt Erik Albrecht.
Jetzt also auch noch eine Parlamentswahl. Als ob Großbritannien derzeit mit dem Brexit nicht genug zu tun hätte. Ein Wahlkampf gegen Labour sei derzeit so einfach, wie Goldfische in einem Aquarium zu jagen, sagte mir neulich ein Politologe. Parteitaktisch kann man Theresa Mays Entscheidung für Neuwahlen also durchaus verstehen. Ihre Chancen stehen so gut wie noch nie. Die Labour-Partei dümpelt heillos zerstritten im Umfragetief. Kaum jemand traut ihrem Chef Jeremy Corbyn zu, Premierminister zu sein.

Brexit-Skeptiker werden als "Volksfeinde" gebrandmarkt

May verspricht Stabilität. Doch die wird auch ein haushoher Sieg ihrer Tories nicht bringen. Nicht in Zeiten des Brexits. Ein Preis für die Neuwahlen steht dagegen jetzt schon fest: ein noch tiefer gespaltenes Land. Die Premierministerin schürt derzeit eine Stimmung wie in einer belagerten Festung: das Vereinigte Königreich gegen die anderen 27 EU-Staaten. Um in den Verhandlungen stark zu sein, brauche es "Einigkeit", so Mays Argumentation. Kritik an ihrer Politik schadet aus ihrer Sicht dem Wohl des Landes, weil sie ihre Verhandlungsposition schwächen könnte.
In Leeds, einer traditionellen Labour-Hochburg, rief May in der vergangenen Woche Labour-Wähler dazu auf, diesmal für sie zu stimmen – "im nationalen Interesse", wohlgemerkt. Da ist es nicht mehr weit bis zu den "Saboteuren" und "Volksfeinden", als die die rechte Boulevard-Presse die Opposition und Richter brandmarkt.
Der Ton ist rau geworden in der britischen Politik. Im Referendum waren die Pro-Europäer mit 48 Prozent nur knapp unterlegen. Wer heute auch nur auf die Gefahren eines EU-Austritts hinweist, wird als Verräter an den nationalen Interessen verschrien.

Ein Brexit-Deal am liebsten ohne das Parlament

Theresa May hätte den Brexit-Deal am liebsten am Parlament vorbei umgesetzt. Erst Richter zwangen sie dazu, es doch noch zu konsultieren. Nun hofft sie auf eine vernichtende Niederlage der Labour-Opposition. Manche lässt dies um den Zustand der britischen Demokratie fürchten.
Derweil träumen die Brexiteers weiter von all den leeren Schlagwörtern aus der Referendumskampagne: Großbritannien wieder groß zu machen. Global zu werden. Die Kontrolle zurückzuerlangen. Auch Mays Slogan, dass sie den Brexit zu einem Erfolg machen will, gehört dazu.
Dabei wird es höchste Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Oder – in den Worten der Brexiteers – darüber, was das Land eigentlich mit der Souveränität machen will, die es so dringend von Brüssel zurückgefordert hat.

Was tun ohne die EU-Subventionen?

Etwa über die Frage, wer denn in Zukunft Gemeindezentren und Umgehungsstraßen im armen Norden mitfinanzieren soll, wenn Brüssel nicht mehr dafür zuständig ist. Die Regierung in London hat in den vergangenen Jahren die Haushalte der Kommunen bis weit über die Schmerzgrenze hinaus zusammengestrichen.
Oder darüber, wie britische Universitäten weiter Spitzenforschung leisten sollen, wenn ihnen der Zugang zu EU-Fördertöpfen abhandenkommt.
Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen: Eine Landwirtschaft ohne EU-Subventionen, Fischerei ohne EU-Fangquoten, Industrie und Banken ohne freien Zugang zu ihrem größten Absatzmarkt. Nicht mal in der Frage, was eigentlich mit den drei Millionen EU-Ausländern passieren soll, die im Vereinigten Königreich leben, will die Regierung sich festlegen.
All diese Fragen sind nicht unlösbar. Ganz sicher waren sie für die Brexiteers kein Grund, in der EU zu bleiben. Doch es sind wichtige Richtungsentscheidungen, von denen abhängt, ob der EU-Austritt doch noch irgendwie zu einem guten Ende gebracht werden kann.

Die Wut der Wähler

Und das muss er. Denn wer in Nordengland recherchiert, dort, wo über zwei Drittel der Menschen für den Austritt gestimmt haben, stößt immer wieder auf das Gefühl, dass das Land für viele schon lange nicht mehr funktioniert. Während London und der Südosten wachsen, fühlt sich der Norden abgehängt.
Längst nicht alle Gründe dafür liegen bei der EU. Für die meisten Fragen ist immer schon London zuständig gewesen. Doch der Brexit dürfte es deutlich schwerer machen, die wirtschaftliche Spaltung des Landes zu heilen.
Und so wird irgendwann deutlich werden, dass die Brexiteers ihr Versprechen von einem wieder großen Britannien nicht einlösen können. Das Gefährliche daran ist, dass sich die Wut der Wähler dann nicht gegen sie, sondern gegen das gesamte politische System richten könnte.

Erik Albrecht, geboren 1979, berichtet als Journalist aus Nordengland über Großbritannien in Zeiten des Brexit. Er lebt und arbeitet in Sheffield und in Berlin. Für Deutschlandfunk Kultur hat er zahlreiche politische Kommentare verfasst. Zuletzt erschien sein Buch "Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert"

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