Philipp Hübl ist Philosoph und Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Werte prägen und die Polarisierung verstärken" im Verlag C. Bertelsmann.
Das fatale Bauchgefühl
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Wissen wir wirklich, was wir zu wissen glauben? Gerade im Wahlkampf wird klar: Oft entscheiden wir nicht anhand guter Informationen, sondern aus völlig anderen Gründen. Philipp Hübl macht sich Gedanken über unsere Wissensillusionen.
Wissen Sie, wie ein Reißverschluss funktioniert? Oder eine Toilettenspülung? Spontan bejahen die meisten Menschen die Frage, immerhin hantieren wir täglich mit diesen Wunderwerken der Technik. Doch fast alle Menschen sind aufgeschmissen, sobald sie aufgefordert werden, den Mechanismus zu skizzieren. Wir leiden nämlich an einer fundamentalen Selbstüberschätzung: Wir irren uns darüber, wie gut wir die Welt verstehen.
Halb-, Viertel- und Hundertstelwissen
Psychologen nennen dieses Phänomen "Wissensillusion". So kann fast niemand den Treibhauseffekt in ein paar Sätzen erklären, den Hauptmechanismus für den menschengemachten Klimawandel. Wie Versuche zeigen, scheitern sogar die meisten Klimaaktivisten und Umweltforscher an dieser Aufgabe.
Das scheint auf den ersten Blick nicht schlimm zu sein, denn es herrscht ja kognitive Arbeitsteilung: Für Fachwissen gibt es Experten. Doch bei politischen Entscheidungen wie etwa der anstehenden Bundestagswahl, kann dieses Halb-, Viertel- und Hundertstelwissen dramatische Folgen haben, vor allem in Bereichen wie Medizin und Ökonomie oder beim Klimawandel.
Denn wer sich ohne Faktenwissen entscheiden muss, tut typischerweise das nächstbeste: auf das Bauchgefühl hören – oder danach gehen, was die eigene Gruppe, sprich das eigene politische Lager, tut. Beides ist problematisch. In einer polarisierten Gesellschaft wie den USA zum Beispiel heißt das für die konservativen Wähler, den menschengemachten Klimawandel zu leugnen statt auf die Wissenschaft zu vertrauen.
Wege aus der Polarisierungsfalle
Die Überraschung ist nun: Sobald man Probanden die grundlegende Rolle der Infrarotstrahlung beim Treibhauseffekt erklärt, hören sie auf, den Klimawandel zu leugnen, und zwar unabhängig vom politischen Lager. Wissen hilft nicht nur, die Welt klarer zu sehen, es kann auch einen Ausweg aus der Polarisierungsfalle bieten.
Im linken Lager offenbart sich Unkenntnis bei anderen Zukunftsthemen. Jüngstes Beispiel: Wer Ende September in Berlin zur Bundestagswahl geht, wird parallel auch in einem Volksentscheid darüber abstimmen, ob mehr als 200.000 Wohneinheiten großer Unternehmen gegen eine Milliardenentschädigung vergesellschaftet werden sollen. Die Initiatoren senden damit zwar das moralisch edle Signal "bezahlbarer Wohnraum für alle", wählen aber aus ökonomischer Unkenntnis die falschen Mittel.
Denn die Aktion würde zwar die Mieter der erworbenen Wohnungen entlasten, jedoch nicht das Nettoangebot am Wohnungsmarkt vergrößern. Die bisherigen Mieter hätten dann noch weniger Anreiz, ihre subventionierten Wohnungen zu verlassen. So würden die wenigen freien Wohnungen umso begehrter werden und sich weiter verteuern.
Fehlentscheidungen wegen Unkenntnis
Würde man stattdessen für denselben Milliardenbetrag Sozialwohnungen bauen oder den privaten Wohnungsbau bezuschussen, würde mit dem vergrößerten Angebot auch der Preis sinken – ein einfacher Mechanismus, den man in jedem Lehrbuch nachlesen kann.
Wissenschaftliche Unkenntnis führt, wohin man schaut, zu Fehlentscheidungen. Viele Menschen haben zum Beispiel Angst vor genmanipuliertem Mais, weil sie intuitiv davon ausgehen, dass wie bei einer Infektion etwas vom Mais auf sie übertragen werden könnte – was nicht der Fall ist.
Lernen vom Reißverschluss
Und die meisten Impfverweigerer sind nicht Querdenker oder Systemkritiker, sondern sie überschätzen die Gefahren durch eine Impfung einfach maßlos. Selbst von einigen Akademikern hört man manchmal, nur halb im Scherz, sie würden mit der Impfung noch warten, damit ihnen nicht plötzlich ein dritter Arm wächst.
Wer hingegen weiß, wie Klimaveränderungen, Pandemien und Wohnungsnöte entstehen, kann auch gezielter dagegen vorgehen - und trifft bessere Wahlentscheidungen. Bevor wir also die beste aller möglichen Welten erschaffen, müssen wir erst einmal verstehen, wie die Welt funktioniert.
Und je besser die Bildung, desto eher nähern Menschen sich gegenseitig an – ähnlich wie beim Reißverschluss, wo ein Schieber die einzelnen Krampen zu einer Einheit zusammenführt.