Wahlkampf ohne klare Worte

Was die Spitzenkandidaten von Macron lernen könnten

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron begrüßt Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Elysee Palast.
Emmanuel Macron und Angela Merkel vor dem Elysee Palast: Deutschland könne sich einiges bei Frankreich abgucken und lernen, meint der Journalist Thomas Hanke. © picture alliance / dpa / MAXPPP / Sébastien Muylaert
Ein Kommentar von Thomas Hanke |
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So unklar manche politischen Inhalte im Bundestagswahlkampf blieben, so wenig Kontur zeigten die Kandidatinnen und Kandidaten, konstatiert der Journalist Thomas Hanke. Wie man es besser macht, zeige der französische Präsident Emmanuel Macron.
Wer den Wahlkampf verfolgt hat, könnte denken, wir lebten auf einer Insel. Parteiübergreifend erweckten die Kanzlerkandidat:innen den Eindruck, Deutschland sei ein politisch autarkes Gebiet, abgeschottet von der Welt, von latent aggressiven Nachbarn wie Russland, von ruppigen Bündnispartnern wie den USA und vom machtversessenen Giganten China. Als eine große Schweiz kam unsere Republik daher, beschaulich im Windschatten der Weltpolitik ruhend, fast wie vor dem Fall der Mauer.
Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet wollen das größte Land der Europäischen Union führen. Unsere Partner blicken voller Spannung auf die Wahl. Doch bei uns waren die Bedeutung des Landes für die EU und unsere Abhängigkeit von ihr kein Thema.

Auslandspolitische Fragen bleiben unbeantwortet

Deutschlands Rolle in der Welt? Unter den Tisch gefallen bei den Triellen. Wie verhalten wir uns gegenüber den USA, die gerade Frankreich und die ganze EU rüde vor den Kopf gestoßen haben? Wie stellen wir uns zu China, das uns technologisch den Rang abläuft und seine Nachbarn einschüchtert? Wie sozial soll, wie militärisch darf die EU werden?
Schweigen im Walde der Kandidat:innen.

Die Wahlkampagne auf unserer virtuellen Insel lief so, als hätte Deutschland keine Konkurrenten und Feinde, sondern nur Handelspartner. Alle Spitzenleute prahlen zwar mit unserer wirtschaftlichen Stärke, aber wenn es um harte Fragen wie unsere Aufgaben in Europa, in Afrika und Asien geht, dann ducken sie sich weg.
Sie pflegen ihr Klientel mit ihren jeweiligen Lieblingsthemen. Und schweigen zu allem, was für Ärger sorgen könnte. Doch das Böse ist in der Welt, um es pathetisch auszudrücken, und von einer deutschen Kanzlerin oder einem Kanzler wird erwartet, dass sie sich dazu verhalten.
Was würden Laschet, Scholz oder Baerbock unternehmen, falls Wladimir Putins Russland die Ukraine angriffe? Was, wenn in Afghanistan und im Sahel neue Kalifate entstünden und von dort wieder Terrorangriffe ausgingen?
Niemand wird als Kanzlerin oder Kanzler geboren, aber der Souverän, das Volk hat ein Anrecht darauf, vor einer Wahl zu erfahren, wie der Regierungschef die begrenzte, aber existierende Macht Deutschlands einsetzen will.

Mehr Standfestigkeit und Berechenbarkeit sind gefragt

Man muss kein Fan des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron sein, um festzustellen, dass der ein ganz anderes Verständnis von politischer Offenheit und Führung hat. Er hat vor seiner Wahl gesagt, dass die EU für ihn der Dreh- und Angelpunkt französischer Politik ist. Macron hat umstrittene Reformen in Aussicht gestellt und sie dann verwirklicht.
Beim Schutz der Bevölkerung vor dem Coronavirus hat er sich mit Ärzten und Lehrern angelegt. Den beklagenswerten Zustand der NATO hat er in den polemischen Begriff des "Hirntods" gefasst und er fordert die Europäische Union heute auf, die Folgen aus dem unberechenbaren Verhalten der USA zu ziehen und mehr für die eigene Sicherheit zu tun.
Das alles ist in Frankreich nicht populärer al s in Deutschland. Doch Macron nimmt seinen Job politischer Führung ernst. Er duckt sich nicht weg, er geht vor der nächsten Präsidentschaftswahl im April 2022 das Risiko ein, viele Wähler vor den Kopf zu stoßen. Das ist nicht nur eine Frage des politischen Stils. Es geht um eine Kernfrage der Demokratie: Wer das wichtigste Amt anstrebt, muss vor der Wahl detailliert sagen, wofür er in europäischen und in internationalen Fragen steht.
Sicher, über Auslandseinsätze oder über gemeinsame Schulden in der EU zu sprechen, das bringt nicht unbedingt Pluspunkte. Doch Wähler suchen nicht nur beruhigende Floskeln. Standfestigkeit und Berechenbarkeit, die Politiker wie Macron beweisen, überzeugen am Ende mehr als das kantenlose Verhalten, das wir gerade erleben.
Mehr französische Geradlinigkeit, weniger deutsche Inselmentalität würde man sich auch bei uns wünschen.

Thomas Hanke lebt als Publizist in Berlin. Bis Juni 2021 war er der Frankreich-Korrespondent des "Handelsblatt". Zuvor war er Politikchef der "Financial Times Deutschland" und arbeitete als Korrespondent der "Zeit" in Bonn und Brüssel. Von ihm ist im Juni das Buch "Können wir Frankreich vertrauen? Deutsche Klischees und französische Realität" erschienen.

© picture-alliance/ dpa / Karlheinz Schindler
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