Wahlkampfreden von Literaten

"Wir haben hierzulande keinen Widerpart mehr"

Ingo Schulze
Ingo Schulze, Schriftsteller © Deutschlandradio / Jana Demnitz
Von Ingo Schulze · 22.09.2017
Autoren halten Wahlkampfreden fiktiver oder realer Figuren. Heute: Ingo Schulze. Der Autor lässt einen dankbaren aber besorgten Aktionärsvertreter zu Seinesgleichen sprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Ungern schütte ich Wasser in den Champagner, den meine Vorredner Ihnen so verschwenderisch verabreicht haben. Doch wenn ich das, was hier von den Vertretern der Kapitaleigner, Vorstände und Aufsichtsräte gesagt worden ist, zusammenfassen soll, so reicht mir dazu ein Satz: Wir sind die ewigen Sieger der Geschichte! Die bevorstehende Bundestagswahl, die doch der Anlass unserer Zusammenkunft sein sollte, wurde noch mit keinem Wort erwähnt. Ich halte das für gefährlich, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Die Politik besorgt heute unser Geschäft!

"Was hat er nur wieder?", werden Sie jetzt denken, es könnte doch gar nicht besser laufen. Sie wissen, ich selbst habe jahrelang dafür gekämpft, dass die Politik unsere Interessen vertritt. Wenn ich mir jetzt Sorgen um die Politik mache, dann nicht, weil wir nicht erfolgreich gewesen wären, sondern weil wir zu erfolgreich geworden sind. Mittlerweile ist es die Politik, die unser Geschäft besorgt.
Einige werden meinen, das sei schon immer so gewesen und auf die Damen und Herren Abgeordneten wie auf die Kollegen von der Gewerkschaft verweisen, die, sobald sie in einem unserer Aufsichtsräte sitzen, nicht wiederzuerkennen sind. Aber das meine ich nicht.

Wer wagt noch über eine Alternative nachzudenken?

Nennen Sie mir einen Wunsch, der uns nach der Vereinigung unseres Vaterlandes nicht erfüllt worden wäre? Übertreibe ich, wenn ich behaupte: Wir haben hierzulande keinen Widerpart mehr? Und selbst in Europa! Wer wagte heute noch öffentlich über eine Alternative zu unserem System nachzudenken, über eine Marktwirtschaft ohne Leute wie uns? Gibt es einen Politiker, der uns nicht in einer Sänfte in seinen Wahlkreis trüge?
Früher glaubte man noch, unserer entfesselten unternehmerischen Initiative volkswirtschaftliche Überlegungen entgegen halten zu müssen. Heute fragt uns niemand mehr, womit wir unser Geld verdienen. Die Lehmann-Geschichte gilt mittlerweile als untypischer Betriebsunfall, der letztlich nur alles besser und sicherer gemacht hat. Und falls doch was schief geht, wissen wir ja, wer die Verluste trägt.
Eine Institution wie der Europäische Gerichtshof hat uns aber das größte Geschenk gemacht, in dem er allem nationalen Recht die Geltung entzog, das er für markthinderlich hält. Ganz gleich, wer gewählt wird, hat sich an europäisches Recht zu halten.

Wer kann unserem Gewinnstreben etwas entgegensetzen?

Ich frage mich nur, wie lange das noch gut geht? Kann es denn sein, dass immer alles in denselben Taschen landet? Was machen wir, wenn sich alle armen Teufel dieser Welt auf den Weg machen? Was machen wir, wenn der nächste Schock Europa wacht küsst?
Sie wissen wie ich: Wir leben so gut, weil andere schlecht leben. Das gilt für Deutschland, das gilt für Europa, aber vor allem gilt es für die Welt. Und ich sehe niemanden außer uns, der daran etwas ändern kann. Und das ist der Skandal! Wer außer uns selbst hat unserem Gewinnstreben noch etwas entgegensetzen? Die Parteien? Die Medien? Die Gewerkschaften? Die EU? Die Kirchen? Sie alle sind von unserem Geld geblendet, sie alle kuschen vor uns oder verneigen sich gar.
Aber sieht denn niemand, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass sich das Geld, unser bestes Argument, gegen uns zu wenden beginnt? Wie Zauberlehrlinge stehen wir da, beklatschen die entfesselte Vermehrung unseres Geldes und fragen nicht mal, wohin das führen soll! Wenn wir nicht anfangen, etwas von unserem Mammon zu verteilen, wenn nicht wir für etwas mehr Ausgleich und Balance sorgen, wird unser Schiff kentern und wir könnten alles verlieren.
Ich möchte handeln, bevor ich gezwungen werde zu handeln. Wir selbst müssen gegen unsere Interessen vorgehen, um diese langfristig zu sichern.

Für eine Finanztransaktions- und einer Vermögenssteuer

Lassen Sie uns für eine andere Finanz-, Handels-, Steuer- und Subventionspolitik sorgen, lassen sie uns zumindest mit einer Finanztransaktionssteuer und einer Vermögenssteuer beginnen. Wir müssen etwas tun, damit unser Schiff Kurs hält. Und nun hoffe ich, dass Sie sich bereitfinden, mit mir gemeinsam darauf anzustoßen. Prosit!

Ingo Schulze ist Schrifsteller. Soeben erschien von ihm:
"Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst"

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