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"Wir sind in einer Gesellschaft, die immer vielfältiger wird"
Knapp die Hälfte der Wähler weiß noch nicht, was sie bei der Bundestagswahl wählen soll. Sergey Lagodinsky von der Heinrich-Böll-Stiftung sagt, die Zeiten seien komplizierter und viele Wähler wüssten nicht mehr, wofür die Parteien stehen.
Einen Monat vor der Bundestagswahl weiß fast die Hälfte der Wähler noch nicht, für wen sie am 24. September stimmen wollen. Das geht aus einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach für die Frankfurter Allgemeine Zeitung hervor. So hoch wie derzeit, 46 Prozent, war der Anteil der Unentschiedenen in den vergangenen 20 Jahren so kurz vor der Wahl noch nie.
Parteidemokratie unter Druck
"Früher war es relativ einfach, wenn Du Industriearbeiter warst, wenn Du für soziale Gerechtigkeit warst, dann war es ja klar, bei wem Du ein Kreuzchen machen würdest", sagte Sergey Lagodinsky, Leiter des EU- und Nordamerika-Referats der Heinrich-Böll-Stiftung im Deutschlandfunk Kultur. Jetzt wüssten viele Wähler nicht mehr, wofür die größeren Parteien stünden. Die Zeiten seien komplizierter geworden. "Wir sind ja in einem Strukturwandel, in einem digitalen Wandel. Wir sind in einer Gesellschaft, die immer vielfältiger wird." Viele Menschen kämen damit nicht zurecht oder seien verwirrt. "Sie wissen nicht, was sind denn die richtigen Schwerpunkte." Die liberale, repräsentative Parteidemokratie sei unter Druck geraten, sagte Lagodinsky. Dadurch sei der Frontverlauf zwischen demokratisch ausgerichteten Parteien versus populistische Parteien klar. Der Unterschied zwischen der Merkel-CDU und der SPD sei dagegen schwieriger zu erkennen. "Es ist kein Wunder, dass viele Menschen einfach nicht wissen, wie sie entscheiden würden." Das gelte auch für einige kleinere Parteien.
Großes Experiment
Die jüngste Umfrage des Forsa-Instituts zeigt, dass die Grünen in der Wählergunst weiter verlieren und offenbar nur noch mit 7 Prozent Zustimmung bei der Bundestagswahl rechnen können. Auf die Frage, ob das grüne Führungsduo Katrin Göring Eckhardt und Cem Özdemir vielleicht zu wenig Überzeugungskraft habe, sagte Lagodinsky: "Früher kam es viel mehr auf die Persönlichkeiten an, weil es schon eher autoritär ausgerichtete Strukturen waren, sowohl gesellschaftspolitisch wie auch parteipolitisch." Jetzt sei es ein großes Experiment, ob die Parteien auch aus ihrer inneren Kraft und dezentraler Kommunikation heraus funktionierten – und damit auch manchmal depersonalisiert. Allerdings sei die CDU mit Angela Merkel ein Gegenbeispiel, räumte Lagodinsky ein. Aber bei der SPD und den Grünen handele es sich um ein Experiment, inwiefern Parteien durch ihre Inhalte und die Menschen im Wahlkampf auf der Straße überzeugen könnten. "Ob das funktioniert, wir werden das sehen." (gem)