Marcel Schütz ist Research Fellow an der Northern Business School Hamburg und lehrt an den Universitäten Bielefeld und Oldenburg. Sein Schwerpunkt liegt in der soziologischen Organisationsforschung.
Warum Demoskopen immer häufiger danebenliegen
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Demoskopen und Wahlforscher haben schwierige Wochen hinter sich. Bei den Landtagswahlen lagen sie eher daneben. Warum die größere Schwierigkeit ihnen aber erst noch bevorsteht, erklärt der Organisationssoziologe Marcel Schütz.
Im Superwahljahr jagt eine Umfrage die nächste. Bei relativ unspektakulären Wahlkämpfen deuten sich künftige Machtverhältnisse schon über Monate an. So war es 2017, 2013 und 2009.
Eine "Wechselstimmung" konnten die Demoskopen in den vergangenen 40 Jahren lediglich zwei Mal messen: 1998 mit dem anschließenden Sieg Gerhard Schröders über Helmut Kohl und bei der vorgezogenen Wahl 2005, in der sich Angela Merkel durchsetzte – wenn auch am Ende knapper als erwartet.
Eben doch nur eine halbe Wechselstimmung. Oder wie man mit der Statistik sagen kann: typisch deutsch.
Eine komplizierte Ausgangslage
Diesmal ist alles komplizierter.
Mit dem Amtsverzicht einer Kanzlerin werden in den Parteien Hoffnungen geweckt, daraus Kapital zu schlagen. Auch ist der Dreikampf der offiziellen Kanzlerkandidaten ein Novum.
Beides ist aber nicht allein entscheidend. Eine wichtige Veränderung besteht in der Angleichung der für eine nächste Regierung aussichtsreichsten Parteien.
Mit leichten Ausschlägen nach oben und unten bewegen sich Union, Grüne, SPD und FDP derzeit in einer Spannweite grob zwischen 30 bis 15 Prozent – wobei im Trend die höchsten Werte auf die Union, die niedrigsten auf die Liberalen entfallen.
Umfragen produzieren Unsicherheit
Aus dieser "schwankenden Knappheit" folgt, dass speziell im Fall von Dreierbündnissen die Parteien weder erheblichen Abstand zur Konkurrenz benötigen, noch als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen müssen. Daher wird die Abschätzung möglicher Konstellationen ungenauer, da wenige Prozente darüber entscheiden können, für welche Regierung eine Mehrheit erreicht wird.
Umfragen können all das nur begrenzt antizipieren. Kurioserweise produzieren sie selbst Unsicherheit, da häufige Stimmungsbilder die Wahlpräferenz beeinflussen können. Parteien, die gut im Kurs stehen, gewinnen weiteren Zuspruch, da der Eindruck reift, die Stimme für sie sei nicht umsonst.
Andererseits gibt es Annahmen, dass die Aussicht auf bestimmte Regierungsszenarien taktisches Dafür- oder Dagegenwählen motiviert. Ein solcher Effekt wurde zuletzt in Sachsen-Anhalt vermutet. Solidaritäts- und Abwehrreaktionen tragen also zu einer gewissen Verzerrung der Demoskopie bei.
Vorsicht vor voreiligen Abgesängen
Das momentane Schwächeln der Grünen, der Wiederaufstieg der Union und eine stagnierende SPD mögen andeuten, wer am Ende das Zepter in der Hand hält.
Doch Obacht bei so viel Vergesslichkeit. Die FDP stand im vergangenen Jahr knapp über der Fünf-Prozent-Hürde, während die Union noch über stabile Werte verfügte, bevor diese Anfang 2021 deutlich sanken.
Prompt war für die Medien der Machtverlust der Union so sicher wie das Amen in der Kirche. Kaum beginnt der Wahlsommer, steigen die Zahlen. Aller Abgesang wieder Schnee von gestern.
Die Erhaltungsneigung der Macht
Trotz dieser Achterbahnfahrt: Es gibt auch auf Verstetigung drängende Kräfte, zum Beispiel das Muster früherer Erfolge, das wiederholt die CDU begünstigt. Man spricht von der Erhaltungsneigung der Macht.
Die zeigt sich am deutlichsten im Amtsbonus des Kanzlers, der diesmal allerdings abgeschwächt ist, da die Kanzlerin keine neue Regierung anführen wird.
Größere Unsicherheiten ergeben sich durch Grüne und FDP, die sich als Königsmacher oder Machtablöser erweisen, einer Unionskanzlerschaft nützen oder schaden könnten.
Warum man Vorhersagen misstrauen sollte
Dem Gerangel zwischen Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen dürfte größere Aufmerksamkeit gelten. Zwischen diesen dreien gibt es ein Auf und Ab der Prozente. Mit ihrem Verhältnis wird sich entscheiden, wer künftig das Kanzleramt bezieht.
Man muss sich klarmachen: Dass die Wahlentscheidung diesmal volatiler ausfällt, gibt Anlass, allen vermeintlich sicheren Vorhersagen zu misstrauen.
Angesichts der vielen Versuche, Klarheit in die Zahlen zu bringen, ist vielleicht eine Ironie des Ganzen, dass man in ein Wahlergebnis am Ende regelrecht "hineinstolpern" könnte.