Wahlrecht ab 16?

Von Burkhard Müller-Ullrich |
Nicht nur das Volk ist unzufrieden mit seinen Politikern, auch die Politiker sind es mit ihrem Volk. Die Politiker möchten deshalb einem Vorschlag Bertolt Brechts folgend ein anderes Wahlvolk wählen. Das ist natürlich nicht ganz leicht, aber partiell lässt es sich machen. Zum Beispiel lässt sich an der Altersgrenze drehen, die das Wahlvolk von den Kindern trennt. Wenn auch Kinder wählen dürfen, dann - so hoffen Grüne, SPD und FDP - sehen die Wahlergebnisse anders aus, denn Kinder lieben die Natur, den Sozialismus und den Onkel Guido.
Selbstverständlich wird das nicht in dieser Deutlichkeit gesagt. Stattdessen bekommt man haarsträubende Begründungen wie die des niedersächsischen SPD-Fraktionschefs Wolfgang Jüttner zu hören. Er erklärte allen Ernstes, Jugendliche seien "heute früher reifer". Wo hat er das nur her? Wie kann er so etwas beweisen? Meint er die zunehmende Zahl von Schwangerschaften Minderjähriger? Die Erfahrung lehrt doch im Gegenteil, dass die Pubertät immer länger dauert; man kann schon froh sein, wenn die eigenen Kinder bis 30 durch sind und allmählich so etwas wie Verantwortung übernehmen.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Renate Künast, fügte noch ein bemerkenswertes Argument hinzu: "Wenn wir die Probleme der Zukunft lösen wollen", sagte sie, "müssen wir auch die Menschen fragen, die morgen mit unseren Entscheidungen leben müssen." Daraus folgt, dass die Allerkleinsten am allermeisten zu sagen haben sollten, denn sie müssen ja am allerlängsten mit unseren Entscheidungen leben. Diese Logik läuft auf ein generelles Kinderwahlrecht hinaus, wie es vor vier Jahren in der Diskussion war. Doch diesmal geht es nicht um Babies, die ihren Eltern zusätzliche Stimmzettel verschaffen, sondern bloß um das Heer der Halbstarken. Es geht um die Herabsetzung des Wahlalters auf sechzehn Jahre. Und da fällt der Gewinn an Zukunft nicht so gewaltig aus. Er beträgt genau zwei Jahre.

Im Übrigen wäre zu fragen, ob dem Wunsch mancher Politiker, die Wählerschaft zu verjüngen, nicht ein seltsamer Demokratie-Irrtum zugrunde liegt. Denn offenbar sind sie vom Denkbild eines Gegengewichts zu unserer alternden Gesellschaft geleitet. Weil die Menschen immer länger leben und die Alten durch ihre wachsende Zahl immer größeren politischen Einfluss haben, so lässt sich der Gedankengang zusammenfassen, müssen zum Ausgleich die Stimmen der Jungen besonders gestärkt werden.

Aber wo gibt’s denn so was? Besteht das Prinzip der Demokratie darin, der Demographie zu folgen oder ihr entgegenzusteuern? Würde man, wenn es weniger Autofahrer gäbe, für diese noch mehr Straßen bauen? Bekommt nicht jede größer werdende Bevölkerungsgruppe automatisch mehr politisches Gewicht? Bloß das sich verändernde Mengenverhältnis zwischen Alt und Jung erweckt bei manchen Leuten Ausgleichsfantasien, die jedem Gedanken demokratischer Repräsentation Hohn sprechen.

Zur Beruhigung beitragen wollte wohl der nordrhein-westfälische FDP-Vizechef Andreas Pinkwart, als er darauf verwies, dass 16-Jährige ja in der Tat schon hier und da auf kommunaler Ebene wählen dürfen. Man habe damit, verkündete Pinkwart, im größten Bundesland gute Erfahrungen gemacht. Was im Himmels willen meinte er damit? Dass sich die Pickelgesichter in den Wahllokalen nicht danebenbenehmen? Oder dass sie nicht komplett das Falsche wählen? Was mag es überhaupt heißen, wenn ein Politiker verlauten lässt, man habe mit den Wählern gute Erfahrungen gemacht? Ist er dann geneigt, sie noch mal wählen zu lassen? – Dann aber schnell, sonst sind sie vielleicht schon keine Jugendlichen mehr. Jugendlichkeit ist nämlich eines der ganz wenigen Probleme auf der Welt, die sich mit der Zeit von selbst erledigen.

Politische Partizipation jedoch hat auch etwas mit Geld zu tun. Das Gefühl für diesen Zusammenhang ist in Deutschland allerdings schon lange verloren gegangen. Insofern passt es, dass man 16-Jährige, die in der Regel noch gar keine Steuern zahlen, über die Staatsfinanzen mitentscheiden lassen will. Für sie bleibt jede Willensäußerung finanziell folgenlos – eine prima Einübung jenes politischen Prinzips, nach dem überall verfahren wird und das da lautet: ‚Irgend jemand wird schon für alles aufkommen.’

Dafür können sich die Jugendlichen verstärkt "in die Gesellschaft einbringen", wie der saarländische SPD-Vorsitzende Heiko Maas im schönsten Sozialarbeiterjargon frohlockte. Bislang sieht das Einbringen mit sechzehn ja vor allem so aus, dass man sich vom Religionsunterricht abmeldet, und zwei wöchentliche Freistunden bekommt, um auf dem Oberstufen-Hof zu paffen.

Wie aber wäre es, zunächst einmal die Strafmündigkeit um zwei Jahre vorzuziehen, wenn die Jugend so viel früher reif wird wie behauptet? Das möchte natürlich niemand fordern. Auch am Führerscheinalter soll sich nichts ändern. Denn Autofahren ist ein ernstes, ja ein tödliches Geschäft. Politik hingegen ist schon längst zur Kinderei geworden.

Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.
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