Sprecherin: Maria Hartmann
Ton: Christiane Neumann
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig
Wie viele Vertreter braucht das Volk?
30:35 Minuten
Drei Überhangmandate ohne Ausgleich: Was die Große Koalition kürzlich beschlossen hat, ist kaum mehr als ein Wahlrechtsreförmchen. Ändern wird es kaum etwas am Bundestag XXL. Gäbe es eine bessere Lösung?
Tag eins nach der Einigung, um die die Fraktionen im Bundestag so lange gerungen haben. Die Opposition ist empört. Jahrelang hat die Große Koalition sich Zeit gelassen für eine Änderung des Wahlrechts.
Was herauskam, ist ein Minimalstkompromiss: Eine leichte Dämpfung bei der Berechnung der Mandate, die den Bundestag aufblähen. Drei Überhangmandate, die nicht ausgeglichen werden müssen. Und einmal mehr eine Kommission, die neue Vorschläge erarbeiten soll. Alles Weitere wurde vertagt in die nächste Legislaturperiode. Von Reform kann da kaum die Rede sein.
"Was die Koalition beim Thema Wahlrecht als Kompromiss vorgelegt hat, ist (…) eine reine Wählerverarsche. Wieder mal ist ein Verschiebebahnhof aufgemacht worden", so der Linken-Politiker Dietmar Bartsch.
"Ich bin überhaupt nicht froh, denn das löst unser Problem, was wir im Wahlrecht haben, überhaupt nicht, es unterstreicht die Handlungsunfähigkeit von Union und SPD", findet Britta Haßelmann von den Grünen.
Die Gefahr des XXL-Bundestags bleibt
Und der FDP-Abgeordnete Marco Buschmann meint:
"Beim Wahlrecht wird jede echte Reform verzögert und verschleppt, die Gefahr eines XXL-Bundestages ist nicht gebannt. (…) Der größte Verlierer in diesem Gezerre ist das Ansehen der Politik insgesamt."
Selbst Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus hat Mühe, die Einigung als Erfolg zu verkaufen:
"Beim Thema Wahlrecht nach sieben Jahren eine Einigung. Persönlich hätte ich mir ein bisschen mehr vorstellen können, aber Politik ist ein Kompromiss und insofern bin ich zufrieden."
Zu größeren Veränderungen kommt es erst bei der Bundestagswahl 2025. Dann werden die Wahlkreise von heute 299 auf 280 verringert. So soll eine weitere Vergrößerung des Bundestages verhindert werden. Doch auch dieser geringfügige Einschnitt löst das Problem nicht, sondern schwächt es lediglich ein wenig ab.
Die Parteien müssten gegen ihre Interessen entscheiden
Schon jetzt hat Deutschland das größte Parlament aller demokratischen Länder. Mehr als das amerikanische Abgeordnetenhaus, mehr sogar als das Europaparlament, in dem neben Deutschland noch 26 andere Nationen repräsentiert sind. 709 Abgeordnete sitzen im Deutschen Bundestag, dabei hatte der Gesetzgeber einmal eine Größe von 598 vorgesehen.
Doch eine Reform bedeutet für die Parlamentarier, Hand an die eigenen Mandate legen zu müssen.
"Wir haben hier ein ganz klassisches Dilemma, dass die Parteien im Grunde gegen ihre eigenen Interessen entscheiden müssen", sagt die Juristin Sophie Schönberger.
"Denn jede Verkleinerung des Parlaments bedeutet, dass jede Partei in absoluten Zahlen weniger Abgeordnete entsenden kann. Das heißt, die Parteien, die auch noch schlechtere Wahlergebnisse erwarten beim nächsten Mal, trifft es besonders hart, aber grundsätzlich muss jeder abgeben. Und das ist schwierig, sich dazu durchzuringen."
Sophie Schönberger ist Staatsrechtlerin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie sitzt in ihrem Garten, nur einen Steinwurf vom Unicampus entfernt, die wenigen Regentropfen, die fallen, stören sie nicht.
Ein Wahlsystem, das nur Mathematiker verstehen
Dass der Bundestag zuletzt immer größer wurde, hat mehrere Gründe. Einer der wichtigsten sind die Überhang- und Ausgleichsmandate. 299 Abgeordnete kommen über Direktmandate aus den Wahlkreisen, die anderen 299 ziehen über die Landeslisten der Parteien ein. Ergibt zusammen die "Sollgröße" des Bundestages von 598 Sitzen. Gewinnt eine Partei aber mit der Erststimme mehr Wahlkreise, als ihr nach Zweitstimmenergebnis an Sitzen im Bundestag zusteht, kommt es zu Überhangmandaten dieser Partei. Weil das aber zu einer Verzerrung des Kräfteverhältnisses im Bundestag führt, wurden 2013 nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die sogenannten Ausgleichsmandate eingeführt.
Wie viele Ausgleichsmandate für die übrigen Parteien nun aber so ein Überhangmandat nach sich zieht, folgt so komplizierten Berechnungen, dass man schon Mathematik studiert haben muss, um das noch zu verstehen.
"Die allermeisten Wählerinnen und Wähler haben keine wirkliche Vorstellung davon, wie sich ihr eigenes Stimmverhalten in der Methodik unseres geltenden Wahlrechts anschließend in Sitzverteilungen und Mandate umrechnet", sagt der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Es ist wie mit einem Kuchenteig, der zusammengerührt wird und bei dem niemand so genau weiß, was am Ende herauskommt. Man nehme je Bundesland die Direktmandate der Parteien, ihr Zweitstimmenergebnis, die Bevölkerungszahl und die Wahlbeteiligung. Heraus kommt mitunter eine Anzahl an Sitzen im Bundestag, die weit über dem Zweitstimmenergebnis der einzelnen Parteien liegt.
Einige wenige Überhangmandate können dabei sehr viele Ausgleichsmandate nach sich ziehen. Bei der Bundestagswahl 2013 beispielsweise provozierten 4 Überhangmandate ganze 29 Ausgleichsmandate. Doch dieses Verhältnis ist nicht statisch und lässt sich auch nur schwer prognostizieren. Generell lässt sich nur sagen: Je kleiner die Partei, die die Überhangmandate erringt, desto größer die Zahl der Ausgleichsmandate. Besonders aufblähend wirkt dieser Hebel daher bei der CSU, die ja nur in Bayern antritt und somit bundesweit nur etwa auf sechs bis sieben Prozent kommt. Für jedes Überhangmandat der CSU sind bei der Bundestagswahl 2017 14 bis 15 Ausgleichsmandate angefallen.
Der Staatsrechtler Christian Pestalozza hält die Ausgleichsmandate generell für problematisch:
"Das ist ja ein Stück aus dem Tollhaus, die Ausgleichsmandate. Weil eine Partei besonders viel Erfolg mit der Erststimme gehabt hat und sogenannte Überhangmandate errungen hat, also mehr Erfolg mit der ersten als mit der zweiten Stimme. Das muss dann ausgeglichen werden. Das heißt, die anderen Parteien werden sozusagen entschädigt dafür, dass sie weniger Erfolg hatten als die eine Partei mit ihren Erststimmen. Und dann kommen sie zu Ausgleichsmandaten, hinter denen kein Wähler steht."
Ein Kompromiss aus dem Jahr 1949
Über das deutsche Wahlrecht heißt es oft, es vereine das Beste zweier Welten: Die Personenwahl des Direktkandidaten im Wahlkreis stellt Bürgernähe her. Die Zweitstimme garantiert, dass die politischen Strömungen der Gesellschaft proportional im Parlament abgebildet werden. Die Wahlkreise werden durch Mehrheitswahl entschieden, die Zweitstimme durch Verhältniswahl. Ein Kompromiss, auf den sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 im Parlamentarischen Rat in Bonn einigten ...
"… angesichts der Aufgabe, die der jetzt lebenden deutschen Generation gestellt ist, nämlich eine arbeitsfähige, eine funktionierende Demokratie aufzubauen – und wir wissen, dass wir schon einmal diesen Versuch gemacht haben. Damals ist der Versuch gescheitert, dieses Mal muss der Versuch gelingen. Und wir wissen, dass dabei das Wahlrecht, das Wahlsystem von entscheidender Bedeutung beim Aufbau dieser arbeitsfähigen Demokratie ist."
So damals Carl Schröter, CDU. Er und seine Fraktion stritten für ein Mehrheitswahlsystem – als Konsequenz des Scheiterns der Weimarer Republik, in der das Verhältniswahlrecht galt.
"Meine Damen und Herren, ich will nicht sprechen (…) von den all den Folgen, die das Verhältniswahlsystem nach sich ziehen muss, mit dem Vielparteiensystem, will nicht sprechen vom Zwang zur Bildung von Koalitionsregierungen, vom Zwang zur Bildung von Kompromissen, von der Tatsache, dass innerhalb der Koalitionsregierung, die jederzeit zu einer Koalitionskrise führen können, die Parteien sich verbrauchen sich abnutzen und dass schließlich dann in der Bevölkerung, die alle Parteien schließlich als unzulänglich ablehnt, eine Sehnsucht nach dem starken Manne aufkommt."
Max Becker von der FDP hielt dagegen:
"Die Folge von diesem Mehrheitswahlrecht ist, dass es kein Mehrheitswahlrecht ist, sondern praktisch in vielen Fällen ein Minderheitswahlrecht. Und wenn die Minderheit einer Bevölkerung die Mehrheit der Parlamentsmandate stellt (…) dann die Regierung aus ihrer Mitte stellt, (…) glauben Sie, dass das ein ersprießender Zustand ist?"
Die CDU/CSU-Fraktion im Parlamentarischen Rat und die DP – die Deutsche Partei – konnten sich mit ihrer Idee des Mehrheitswahlrechts nicht durchsetzen. Weil die unterschiedlichen Positionen unvereinbar schienen, wurde im Grundgesetz keines der beiden Systeme festgeschrieben. Dort findet sich in Paragraph 38 nur der karge Satz:
"Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt."
Alles Nähere soll ein Bundesgesetz regeln. Für die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag entschied sich der Parlamentarische Rat 1949 für eine Verhältniswahl – allerdings mit einer wichtigen Ergänzung: 242 Abgeordnete wurden direkt in Wahlkreisen nach Mehrheitswahlrecht gewählt. Der Versuch, beide Systeme zu verbinden.
Doch obwohl die CDU/CSU-Fraktion zunächst daran mitarbeitete, trug sie den Kompromiss am Ende nicht mit.
"Man versucht [allenfalls] die Öffentlichkeit irrezuführen, wenn man bei diesem Gesetz davon spricht, dass es doch gewisse Grundsätze des Mehrheitswahlsystems verwirkliche, da ja ein Teil der Abgeordneten in unmittelbarem Wahlgang in den Wahlkreisen gewählt wird", sagt der CDU-Politiker Heinrich von Brentano. "Ich erkläre, (…) dass dem nicht so ist, dass es allenfalls ein sehr unglückseliger Versuch ist, zwei Dinge, die nicht miteinander vereinbart werden können, (…) der optischen Wirkung halber zu verbinden."
Immer öfter geht die Zweitstimme an kleinere Parteien
In seinen Grundzügen ist das System bis heute erhalten geblieben. 1953 kam das Zweistimmensystem hinzu – vorher wurde nur mit einer Stimme gewählt – und die Art und Weise, wie die Mandate berechnet werden, hat sich immer mal wieder geändert.
Lange Zeit gab es kein Problem: Die Volksparteien gewannen quasi alle Wahlkreise und holten auch bei der Zweitstimme noch 40 Prozent oder mehr. Mittlerweile ist dieses Verhältnis aus dem Gleichgewicht geraten:
Noch immer neigen viele Wähler dazu, mit der Erststimme Vertreter der ehemals großen Volksparteien zu wählen. Mehr als 200 Direktmandate hält die Union seit 2009. Mit der Zweitstimme entscheiden sich aber immer mehr Wähler für eine der kleineren Parteien. Das führt zu vielen Überhangmandaten.
Ein anderer Wachstumstreiber ist die Zersplitterung der Parteienlandschaft. Lange Zeit gab es nur vier Fraktionen im deutschen Bundestag, inzwischen sind es sechs. Je mehr Parteien, desto mehr Ausgleichsmandate.
Mehr Abgeordnete kosten mehr Geld
Doch was ist die Folge, wenn der Bundestag mehr und mehr wächst? Zuallererst wird er sehr viel teurer, sagt die Staatsrechtlerin Schönberger.
"Wenn durch das mehr ausgegebene Geld tatsächlich auch ein besserer Bundestag herauskommen würde, wenn das Geld für mehr Demokratie, mehr Repräsentation oder einfach eine bessere Debattenkultur sorgen würde, dann wäre es gut investiertes Geld. Aber einfach nur mehr Abgeordnete, mehr Büros, mehr Abgeordnetenmitarbeiter per se machen den Bundestag nicht besser, sondern eher schlechter. Und dann ist es ärgerlich, wenn der schlechter funktionierende Bundestag auch noch mehr Geld kostet."
Auf 111 Millionen Euro schätzt die Bundestagsverwaltung die jährlichen Mehrkosten für ein übergroßes Parlament von 850 Abgeordneten. Dabei ist der Plenarsaal nicht das Problem. Der könnte sogar auf das Doppelte an Sitzen erweitert werden. Doch für 800 Abgeordnete oder mehr und ihre Mitarbeiter reichen die derzeitigen Arbeitsgebäude des Parlaments nicht aus. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat vorsorglich bereits den Bau von neuen Bürogebäuden auf den Weg gebracht. In schneller Modulbauweise, der nächste Bundestag wird ja bereits in einem Jahr gewählt.
Der Organisationspsychologe Wolfgang Scholl hat sich intensiv mit Arbeitsprozessen auch in der Politik auseinandergesetzt:
"Kann eine Gruppe, die einen speziellen Punkt vorbereitet in der eigenen Fraktion mit 300 anderen noch sinnvoll reden? Die größte Fraktion hat ja dann vielleicht 300 Mitglieder, das ist kaum noch möglich. Es ist auch völlig unwahrscheinlich, dass die anderen noch zuhören. Wenn Punkt X da ist. passen 30 Leute auf und wenn Punkt Y kommt, sind es wieder andere 30. Das heißt, auch die Fraktionssitzungen werden ein Ungetüm, weil man ja prinzipiell zusammen mit der ganzen Fraktion entscheiden muss."
Alle Themen müssen abgedeckt werden
Aber wieso braucht es überhaupt so viele Abgeordnete im Deutschen Bundestag? Das isländische Parlament hat 42 Abgeordnete, Zypern 50. Könnte der Bundestag seiner Arbeit statt mit normalerweise 600 Abgeordneten nicht auch mit der Hälfte nachgehen?
Im Sinne der Effizienz wäre das schon, findet Scholl. Die Frage wäre allerdings, ob 300 Abgeordnete noch alle Themen abdecken könnten:
"Das Hauptproblem liegt in der Komplexität der Welt, die ganz offensichtlich zunimmt. Und dann ist die Frage, können die einzelnen Abgeordneten, können die einzelnen Fraktionsmitglieder, können die einzelnen Ausschüsse ausreichend über den Gesamtrahmen einen Einblick haben und wissen, was sie da wirklich innerhalb dieses Gesamtrahmens tun? Und je mehr diese Komplexität gewachsen ist in den letzten 100 und 200 Jahren, umso weniger weiß letztlich jeder Einzelne über das Gesamte Bescheid."
Kaum einer kennt den parlamentarischen Betrieb so gut wie der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert. An die 40 Jahre war er Abgeordneter. Nach wie vor unterhält er ein Büro im Deutschen Bundestag. Er macht sich schon lange für eine Begrenzung der Mandate stark. Schon 2013 bei seiner Antrittsrede als wiedergewählter Parlamentspräsident warnte er vor den Risiken eines unbegrenzten Wachstums der Mandate – unter Beifall aller Fraktionen.
Von der Idee, den Bundestag deutlich zu verkleinern, hält er aber ebenso wenig. Ihrer Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren, könnten die Parlamentarier dann nicht mehr gerecht werden:
"Das Wählerverhalten hat zu immer mehr Fraktionen mit immer weniger Mitgliedern geführt. Die würden dann in den Ausschüssen mit einem Mitglied vertreten sein. Und dieses Mitglied soll dann in einem Finanzausschuss oder Haushaltsausschuss oder Wirtschaftsausschuss oder Arbeits- und Sozialausschuss wie viele Fachthemen gleichzeitig gegen wieviel hundert Ministerialbeamten vertreten?"
Ein Abgeordneter vertritt 87.000 Wahlberechtigte
Hinzu kommt: Der Deutsche Bundestag soll knapp 62 Millionen Wahlberechtigte repräsentieren, unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen und politische Richtungen abbilden. Bei der aktuellen Größe des Parlaments kommen auf einen Abgeordneten etwa 87.000 Wahlberechtigte. Betrachtet man dieses Repräsentationsverhältnis, hat Deutschland im internationalen Vergleich keineswegs das größte Parlament, sondern liegt beispielsweise hinter Großbritannien, Frankreich oder Italien.
Je weniger Abgeordnete, desto schwerer ist es auch für Wahlberechtigte, diesen Abgeordneten noch zu erreichen. Der Kontakt zwischen Bürgern und Politikern droht dann vollends verloren zu gehen.
Einer, dem diese Nähe zum Bürger wichtig ist, ist der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Carsten Schneider. Seit sieben Uhr morgens steht er auf dem Domplatz in Erfurt und macht Wahlkreisarbeit. Drumherum kaufen die Erfurter an den Marktständen Obst, Gemüse, Käse und Blumen.
Ein wichtiger Faktor für die Größe des Bundestags ist die Anzahl der Wahlkreise. Viele der bislang diskutierten Reformvorschläge setzen hier an: Grüne, FDP und Linksfraktion hatten einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Zahl der Wahlkreise von bisher 299 auf 250 verringern will. Der Vorschlag, auf den sich die Unionsparteien vor der Sommerpause einigten, sah 280 Wahlkreise vor. Doch die SPD sperrte sich lange dagegen, dass die Wahlkreise angetastet werden.
Vorschlag der SPD: bei 690 Abgeordneten wird gedeckelt
"Ich habe einen Wahlkreis mit 300.000 Einwohnern. Wenn das auf 250 Wahlkreise reduziert wird, dann sind das wahrscheinlich 430.000 Einwohner, überschlägig, mit einer noch größeren Fläche, viele Dörfer, da komme ich nicht mehr rum", sagt Carsten Schneider.
"Eine Vergrößerung der Wahlkreisfläche führt dazu, dass ich mehr betreuen muss, und zu letztendlich geringerem Kontakt zum Wähler und einer Delegitimierung von politischen Entscheidungen. Mir ist der Bürgerkontakt extrem wichtig."
Weil die SPD der Meinung ist, dass es ein Jahr vor der Bundestagswahl zu spät sei für eine größere Reform, hatte sie erstmal eine Übergangslösung vorgeschlagen. Ihr "Brückenmodell" sah einen festen Deckel vor. Bei 690 Abgeordneten sollte Schluss sein. Danach würden die Direktmandate gestrichen. Der oder die Kandidatin mit dem schlechtesten Ergebnis wäre dann nicht in den Bundestag eingezogen, auch wenn er oder sie den Wahlkreis gewonnen hätten.
Diese Idee ist für den Staatsrechtler Christian Pestalozza ein Unding.
"Das ist grotesk", sagt er. "Alles läuft darauf hinaus, dass Sie vom Volk gewählte Kandidaten nicht ins Parlament lassen. Einen schlimmeren Verstoß gegen den Gedanken der demokratischen Wahl könnte es nicht geben. Da ist gewählt worden, und der Wähler und Ihr Kandidat ist erfolgreich, hat alle Voraussetzungen erfüllt. Und jetzt erfahren Sie, er kommt nicht ins Parlament, weil die betreffende Partei zu viel Erfolg gehabt hat."
Die meisten Direktmandate gehen an die Union
Im Kern geht es bei den unterschiedlichen Reformmodellen immer um den alten Konflikt zwischen Verhältniswahl und Personenwahl. Alle Vorschläge der Parteien verlaufen entlang dieser Konfliktlinie. Für die einen hat der Parteienproporz nach dem Zweitstimmenergebnis oberste Priorität, für die anderen die Direktmandate, die mit der Erststimme gewählt werden.
Weil die Union seit geraumer Zeit die große Mehrheit der Wahlkreise im Land gewinnt, will sie auf keinen Fall die Axt an die Direktmandate legen. So zumindest der Vorwurf der politischen Gegner.
"Weil sie einfach mal sagen, also, die Direktmandate sind alle schon auf der Habenseite. Und was dann passiert? Ja, das können wir woanders regeln. Also so, mit dem Grundsatz erreichen Sie das nicht", sagt Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Der Unionsvorschlag, auf den sich die beiden Schwesterparteien mit größter Mühe einigten, sah eine Reduzierung der Wahlkreise auf 280 vor. Darüber hinaus sollten sieben Überhangmandate ohne Ausgleich bleiben. Kein faires Angebot, findet Staatsrechtlerin Schönberger:
"Wenn ich in dieser Form unausgeglichene Überhangmandate vorsehe, dann verzerrt das eben den Zweitstimmenproporz, dann ist das Parlament nicht mehr proportional zum Zweitstimmenergebnis, also zum Wählerwillen zusammengesetzt. Und nach dem jetzigen politischen System führt das ganz klar dazu, dass es im Grunde genommen Bonusmandate für die Union gibt."
Ausgleichsmandate. Das geht nach derzeitigen Mehrheitsverhältnissen aber zu Lasten von Opposition und SPD.
Der CSU-Abgeordnete Michael Frieser hält das dennoch für vertretbar:
"Ausgleichslose Überhangmandate sind kein Teufelszeug, die kennt jedes Wahlrecht auf der Welt. Wenn Sie in Griechenland, in Italien oder in Frankreich die Mehrheit der Stimmen erringen, kriegen Sie sogar noch einen Bonus dazu, zumal in Großbritannien. Also, der Sieger kriegt auch noch einen Aufschlag. Warum? Weil eine Demokratie natürlich auch schauen muss, dass sie regierungsfähig bleibt, dass sie in der Lage ist, Mehrheiten zu konstruieren. Und es gibt nun wahrlich kein verfassungsrechtliches Gebot, dass nur die Union Wahlkreise gewinnen darf."
Der Wählerwille wird verzerrt
Das Modell, auf den sich der Koalitionsausschuss nun geeinigt hat, sieht nur noch drei unausgeglichene Überhangmandate vor. Mehr war mit der SPD offenbar nicht zu machen. Doch auch diese geringere Zahl von drei unausgeglichenen Überhangmandaten hat zur Folge, dass der Wählerwille verzerrt wird. Denn das Zweitstimmenergebnis wird so nicht mehr proportional abgebildet.
Im Gegenzug hat die Union sich auf eine Dämpfung jenes ersten Berechnungsschrittes bei der Zuteilung der Mandate eingelassen, der den Bundestag so aufbläht. Das bedeutet, dass ein Teil der Überhangmandate in einem Bundesland mit Listenmandaten eines anderen Bundeslandes verrechnet werden. Für das Kräfteverhältnis der Parteien im Bundestag macht das keinen Unterscheide. Wohl aber für die Repräsentation der einzelnen Bundesländer.
Doch das jetzt entschiedene Mini-Reförmchen hat genau wie alle anderen jüngst diskutierten Vorschläge ein entscheidendes Problem: Sie begrenzen das Wachstum des Bundestages allenfalls minimal – und selbst das ist nicht sicher.
"Ich sehe das als einen Fehler, dass man immer sagt, unser Vorschlag ist nur ein relativ kleiner Eingriff ins geltende Wahlrecht. Das stimmt. Aber wieso kommt es darauf an? Wenn das geltende Wahlrecht schlecht ist, ist doch eine radikalere Operation viel besser als diese Flickschusterei", meint der Staatsrechtler Christian Pestalozza.
Jede Reform erfordert Abstriche
Am radikalsten ist das Modell der AfD. Sie schlägt vor, dass eine Partei in einem Bundesland nur so viele Direktmandate bekommt, wie es ihrem Zweitstimmen-Anteil entspricht. Ähnlich wie beim SPD-Modell würden Direktmandate gestrichen – angefangen bei den Wahlkreisen mit dem schwächsten Ergebnis. So würde der Bundestag seine vorgesehene Normgröße von 598 Abgeordneten sicher einhalten. Das Größenproblem wäre damit gelöst, allerdings zu dem Preis, dass womöglich eine große Zahl von Wahlkreisgewinnern nicht in den Bundestag einziehen würde.
Jedes Modell muss an irgendeiner Stelle Abstriche in Kauf nehmen. Der Staatsrechtler Pestalozza sieht jedoch gerade in der Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahl, für die das deutsche Wahlsystem von vielen bewundert wird, das entscheidende Problem. Allein schon deshalb, weil es viel zu kompliziert sei:
"Ich möchte denjenigen sehen, der das Bundeswahlgesetz, wenn er es liest, versteht. Schon das ist ein Zeichen dafür, dass da etwas nicht stimmen kann. Eine Norm muss, mit einiger Mühe gegebenenfalls, verständlich sein, auch für den Durchschnittsmenschen oder muss in kurzen Worten erläutert werden können. Und das ist derzeit nicht der Fall. Auch deswegen müssten wir das Wahlrecht reformieren, weil es schlecht ist."
Eine reine Mehrheitswahl ist auch keine Lösung
Ist das Deutsche Wahlsystem nicht mehr zu retten? Wäre ein reines Mehrheitswahlsystem wie im angelsächsischen Raum oder ein Verhältniswahlsystem die bessere Lösung?
Beispiel Großbritannien:
Bei der rigorosen Mehrheitswahl im Vereinigten Königreich hat jeder Wähler eine Stimme, es gibt ein Mandat pro Wahlkreis. Der Kandidat mit den meisten Stimmen wird Wahlkreisabgeordneter und zieht ins britische Unterhaus ein. Das sogenannte "winner-takes-all"-Prinzip.
Das ist einfach und führt in der Regel zu einem entscheidungsfähigen Parlament und einer stabilen Regierung, die keine Kompromisse mit anderen Parteien eingehen muss.
"Der Nachteil ist, dass das natürlich ein völlig anderes Parteiensystem hervorbringt", sagt Sophie Schönberger. "Das führt dann dazu, dass Sie im Wesentlichen zwei große Parteien im Parlament sitzen haben, mit noch so ein paar kleinen regionalen Einsprengseln. Also um ein Mehrheitswahlsystem wirklich einführen zu können, brauchen Sie auch ein Parteiensystem, das auf ein solches Mehrheitswahlsystem angelegt ist."
Würde der nächste Bundestag nach britischem Wahlrecht gewählt, würde die Union nach derzeitigem Stand 80 bis 90 Prozent der Abgeordneten stellen. Die Stimmen der anderen – im Grunde der Mehrheit der Wähler – würden weitgehend unter den Tisch fallen.
In Großbritannien wollte 2019 die Mehrheit der Bevölkerung in der EU verbleiben und stimmte bei der Wahl zum Unterhaus auch entsprechend ab. Trotzdem gewannen die Brexit-Befürworter, die konservativen Tories, eine satte Mehrheit der Sitze. Die Stimmen der Brexit-Gegner verteilten sich auf zu viele unterschiedliche Parteien. Premier Boris Johnson hingegen schaffte es, die Brexit-Befürworter weitgehend hinter sich zu vereinen.
Mehrheitswahlrecht wäre bei den Deutschen chancenlos
In der deutschen Bevölkerung hätte ein System, das solche Verzerrungen hervorbringt, wohl keinen Rückhalt, meint Demokratieforscher Bernhard Weßels.
"Anders als in den Mehrheitswahlsystemen haben wir in Deutschland die Vorstellung, die möglichst Vielen zu repräsentieren. Was immer heißt: Konsens, Kompromissfindung zwischen möglichst vielen Interessen. Das braucht man im Mehrheitswahlsystem nicht so. Aber die Proportionalwahlsysteme erzeugen das."
Da unser jetziges System im Hinblick auf das Endergebnis einer Verhältniswahl entspricht, wäre ein Wechsel zu einem solchen reinen Proporzsystem nach Meinung von Experten problemlos möglich. Es gilt in Bezug auf die Mandatsverteilung als besonders gerecht, weil es sehr direkt die Stimmung im Land abbildet. Der Nachteil: Es begünstigt eine Tendenz zum Vielparteiensystem. Dadurch wird es schwieriger, klare Mehrheiten zu bilden, was komplizierte Koalitionsverhandlungen nach sich zieht.
Ein weiterer Nachteil: Die Wahl ist "unpersönlicher", weil nicht Personen, sondern eine von den Parteien bestimmte Liste gewählt wird.
Aber: Für welches System man sich auch entscheidet, man zahlt immer einen Preis, sagt Norbert Lammert.
"Und jeder, der sagt: lass uns doch mal das bestehende System hinter uns und nach einem ganz anderen und neuen suchen, würde hoffentlich nicht von der Illusion getragen, dass es ja das perfekte Wahlsystem gäbe. Es gibt es eben nicht. Die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, Kompromisse einzugehen, gelten bei einem reinen Mehrheitswahlsystem, gelten bei einem reinen Verhältniswahlsystem und gelten eben auch bei jedem Versuch, das eine mit dem anderen zu kombinieren."
Scheitert die Reform vor Gericht?
Vielleicht wird der kommende Bundestag nicht ganz groß wie lange befürchtet. Derzeit liegt die Union wieder bei starken 37 bis 38 Prozent. Das Auseinanderklaffen von Erst- und Zweitstimme wäre dann vermutlich nicht mehr so groß.
Doch die Mehrheitsverhältnisse können sich schnell wieder ändern. Und so wird auch der kommende Bundestag einmal mehr vor der Aufgabe stehen, das Wahlrecht zu reformieren. Dass die Wahlrechts-Kommission, die noch in dieser Legislatur eingerichtet wird, den Mut zu einer grundlegenden Reform finden wird, ist unwahrscheinlich. Laut Koalitionskompromiss soll es dabei eher um Fragen wie die Absenkung des Wahlalters auf 16 und die paritätische Verteilung von Mandaten auf Frauen und Männern gehen.
Und selbst, ob der aktuelle Kompromiss Bestand haben wird, ist ungewiss. Die Opposition hat bereits angekündigt vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen.