Corona-Mutante schützt Baumhäuser vor Räumung
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Der Bahnhofswald in Flensburg soll einem Parkhaus weichen. Der Besitzer hat zur Rodung nur noch Zeit bis Ende Februar*. Doch der Wald ist besetzt und müsste mitten in einer Pandemie und in einer Stadt mit hohen Inzidenzwerten geräumt werden.
Eike läuft vorsichtig eine kleine Böschung hinunter. Die Treppenstufen sind voller Schneematsch. Das Waldstück wirkt nicht tief und finster, sondern eher wie eine Ansammlung von einzelnen Bäumen oder kleinen Grüppchen, die nahe des Flensburger Hauptbahnhofs in einer Senke und an mehreren Hängen wachsen.
Besetzer erhalten Unterstützung aus der Bevölkerung
Seit Kurzem wächst auch ein knappes Dutzend Baumhäuser. Eike und andere Aktivistinnen und Aktivisten haben sie seit Anfang Oktober errichtet. Sie wehren sich dagegen, dass viele der Bäume für ein geplantes Hotel und ein Parkhaus gefällt werden sollen. All das am Fuße eines steilen Hangs, auf dem mehrere altehrwürdige Villen stehen.
"Gerade von den Menschen, die hier am Waldrand wohnen, bei denen wir natürlich auch schnell sind, unterstützen uns zum Beispiel mit Wasser oder dass wir da Sachen trocken können", beschreibt Eike die Situation der Demonstrierenden. "Da gibt es schon einen engen Austausch. Das sind genau die Menschen, wo wir das Gefühl haben, dass da der größte Austausch bezüglich Weltsicht ist."
Es geht um mehr als nur 50 Bäume
Weiter oben an der Bahnhofsstraße steht Balu vor zwei zeltartigen Buden. Wie Eike ist auch Balu in den 20ern. Beide heißen in Wirklichkeit anders:
"Es ist ein Wald, der für das Städteklima extrem wichtig ist. Da sind extrem viele große Bäume und extrem viel Kleinholz, das nachkommt. Die Stadt sagt offiziell, es sind so 50 Bäume, die gefällt werden. Aber es gibt ganz viele Bäume aus der Baumschutzsatzung, die da gar nicht mit inbegriffen sind. Da ist der Wald so wertvoll. Es ist egal, ob es nur ein städtischer Wald, der Hambi oder der Danni ist. Jeder Baum zählt."
Am Anfang sah es eher nach einer spontanen und kurzweiligen Aktion aus. Inzwischen sind viereinhalb Monate draus geworden. Balu sieht das pragmatisch: "Es muss ja gemacht werden. Wenn wir nicht hier wären, dann wäre der Wald schon lange weg."
Die Stadt will kein Super-Spreader-Ereignis
Mitte Januar sah alles nach einer Räumung des Bahnhofswaldes aus. Doch dann zog Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange kurzfristig die Notbremse. Aus Angst, dass ein Zusammentreffen von vielen Polizeikräften und Waldsympathisantinnen und -sympathisanten ein Super-Spreader-Ereignis werden könnte. Die Corona-Infektionszahlen waren schon zu diesem Zeitpunkt deutlich am Steigen, die britische Mutante auf dem Vormarsch in der Stadt an der deutsch-dänischen Grenze.
Nun droht ein erneuter Räumungsanlauf. Anfang dieses Monats hatten die beiden Investoren über die Presse wissen lassen, dass die Aktivistinnen und Aktivisten spätestens bis Ende Februar von den Bäumen sein müssten. Danach sorgten die gesetzlichen Schonzeiten für einen halbjährigen Baumfällstopp. Damit stünde das ganze Projekt auf der Kippe und der Stadt drohten hohe Regressforderungen.
Investoren wollen der Stadt etwas zurückgeben
Am 21. Oktober war der Tonfall noch ganz anders. In einer einstündigen Debatte trafen damals Kritikerinnen und Kritiker sowie die beiden Projektinitiatoren im "Offenen Kanal" aufeinander. Mit dem Projekt wolle man der Stadt etwas zurückgeben, sagte Investor Ralf Hansen damals:
"Dort, wo wir jetzt das Hotel und das Parkhaus bauen, können sich in Zukunft Menschen finden. Also, Menschen, die Flensburg besuchen, die Flensburg kennenlernen. Wenn wir so ein Bild vor Augen haben, dann sehen wir, dass aus der Straße, wo heute Frauen abends nicht gerne alleine durchgehen, eine schöne belebte Situation wird."
Hansen ist Steuerberater in Flensburg. Mit dem Deutschlandradio will er nicht über die Situation im Bahnhofswald sprechen.
Bauherren haben Kompromisse gemacht
Auch sein Projektpartner Jan Duschkewitz lässt eine Interviewanfrage unbeantwortet. Noch im Oktober hatte der Geschäftsführer eines Heizungs- und Sanitärbetriebs betont, dass es verschiedene Zugeständnisse an die Kritiker gegeben habe:
"Bei dem Hotel ist eine komplette Längsachse und eine komplette Etage verschwunden. Wir haben das ganze Parkhaus und das Hotel dichter an die Bahnhofsstraße herangezogen, also weiter aus dem Wald weg und weiter aus dem Hangbereich."
Joachim Schmidt-Skipiol ist Ratsherr der Flensburger CDU und planungspolitischer Sprecher seiner Partei. Er sagt:
"Man kann den Investoren höchstens vorwerfen, dass sie nicht gleich um die Räumung gebeten haben, sondern, dass sie erst mal etwas naiv darauf eingelassen haben, sich mit den Waldbesetzern zu unterhalten. Irgendwie Argumente auszutauschen, obwohl alle wissen, dass mit solchen Waldbesetzern Argumente gar nicht möglich sind."
Schmidt-Skipiol ärgert sich darüber, dass die Stadt seit Monaten nichts gegen die Baumbesetzung unternehme. Obwohl doch im vergangenen Sommer die Ratsversammlung mehrheitlich** für das umstrittene Projekt stimmte und seit einem Monat die Baugenehmigung vorliegt. Wäre er Oberbürgermeister, würde er den Wald trotz Flensburgs außerordentlich hohen Inzidenzzahlen räumen lassen, da man sich dagegen schützen könne.
Britische Mutante verbreitet sich in Flensburg
"Kann man nicht", sagt Christiane Schmitz-Strempel. Auch sie weiß, dass die Inzidenzzahl in Flensburg am Mittwoch, den 18. Februar, bei 182 liegt und rund ein Drittel aller Ansteckungen auf die britische Mutante zurückgeht.
Vor einem Jahr hat die 70-Jährige zusammen mit ihrem Mann Günter die Bürgerinitiative "Für den Erhalt des Bahnhofswalds" gegründet. Beide sind gegen das Baumfällen im Bahnhofswald für das geplante Hotel mit 152 Zimmern und das Parkhaus mit 296 Stellplätzen. Günter Schmitz-Strempel verweist auf das Artensterben und den Klimawandel:
"Auch zu sehen, dass das, was in Sonntagsreden der Politiker immer wieder vorkommt – nämlich wir müssen ganz dringend die Klimaveränderung als Grundlage jeder politischen Entscheidung als kritischen Maßstab sehen – dass das nicht nur in der Sonntagsrede bleibt, sondern dass das auch wirklich in die konkrete Politik umgesetzt wird."
Gegnerinnen und Gegner des Projektes zweifeln viele politische Entscheidungen der letzten Monate an. Auch stellen sie die Baugenehmigung infrage und verweisen auf die Gefahr eines Hangrutsches, den Artenschutz und eine erst kürzlich entdeckte Quelle sehr nah an dem geplanten Hotel.
Bürgermeisterin geht es um Infektionsschutz
Kommt es in Flensburg in Kürze zum Showdown? Darüber entscheidet vor allem eine Frau, die früher selbst Polizistin war. Heute hat sie im zehnten Stock des Flensburger Rathauses ihr Büro. Seit 2017 ist Simone Lange Flensburger Oberbürgermeisterin.
Die Entscheidung, den Bahnhofswald im Januar nicht zu räumen, sei eine der schwierigsten in ihrem Leben als Politikerin gewesen, sagt die SPD-Frau. Doch der Beschluss sei richtig gewesen:
"Weil sie in der Stadt ganz klar Menschenansammlungen erzeugt hätte. Das war nicht verantwortbar. Diese Frage muss ich mir natürlich immer und immer wieder stellen: Ist es verhältnismäßig, das zu tun? Ich glaube, Stand heute kann man nicht davon sprechen, dass sich die Verhältnismäßigkeit verbessert hätte. Das Inzidenzgeschehen ist eher noch größer geworden, die Dynamik ist noch größer geworden."
In Flensburg herrschen Ausgangssperren
Wenige Stunden nach dem Interview wird Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther wegen der hohen Mutationszahlen nächtliche Ausgangssperren für Flensburg und die Umgebung ab dem Wochenende ankündigen. Simone Lange muss in diesen Wochen mit vielen komplizierten Problemen klarkommen. Mit Blick auf das Hotel- und Parkhausprojekt nahe dem Hauptbahnhof sagt sie:
"Ich glaube, ganz entscheidend ist, dass wir uns nach wie vor partnerschaftlich ins Gespräch begeben. Es ist für alle in der Stadt eine schwierige Situation. Ganz unabhängig davon, für welches Interesse und welches Anliegen man kämpft."
Von den Regressdrohungen an die Stadt will sie sich nicht einschüchtern lassen. Sie hofft darauf, dass trotzdem gebaut wird.
"Besser geht immer! Das will ich gar nicht in Rede stellen. Aber im Verfahren sind hier ganz viele Klimaschutzinstrumente angewendet worden."
Selbst der Vermittler kennt keinen Ausweg
Johannes Ahrens ist Stadtpastor in Flensburg. Er hat im Oktober die Fernsehdebatte im "Offenen Kanal" zwischen den Projektinvestoren und den Gegnern moderiert. Die Stimmung sei gespalten, sagt Ahrens beim Interview in der stillen Nikolaikirche am Südermarkt. Für ihn zeigt der Streit nicht nur die Grenzen der demokratischen Auseinandersetzung, sondern auch zwei unterschiedliche Zukunftsauffassungen:
"Die einen sagen, Zukunft entsteht, wenn Arbeitsplätze entstehen, wenn Steuerzahler generiert werden, wenn die Wirtschaft brummt und so weiter. Die andere Seite hat ganz andere Vorstellungen und sagt, ganz im Gegenteil, Zukunft wird gefährdet durch immer mehr, immer größer, immer weiter. Wir sollten lieber darauf achten, wo verlaufen eigentlich die Klimatisierungszonen unserer Stadt."
Auch der evangelische Pastor weiß keinen Ausweg. Die Kaninchen könnten nur die Beteiligten aus ihren Hüten zaubern, so Ahrens.
*Wir haben die Zeitangabe korrigiert.
**Wir haben den Text um eine falsche Angabe zur Stimmenverteilung gekürzt.
**Wir haben den Text um eine falsche Angabe zur Stimmenverteilung gekürzt.