Walking Football
Keine gefährlichen Tacklings oder Kopfbälle: Szene aus dem Walking Football-Match zwischen Charlton Athletic und Fleetwood Town anlässlich des "Men s Health Awareness Day" am 11. Februar 2023. © IMAGO / Focus Images / IMAGO / Ben Peters
Der entschleunigte Kick
23:42 Minuten
Fußball im Gehen ist ein idealer Sport für Senioren oder Menschen mit Behinderung. Kleines Feld, kleine Tore und flexible Teamstärken. In England wächst die Sportart rasant. Der DFB will jetzt auch einheitliche Regeln für das inklusive Spiel finden.
Walking Football, Fußball im Gehen, auf Schalke. Im Schatten der Arena, dem großen Stadion der Profis, treffen sich die Schalker Gehfußballer Montagabend und Mittwochvormittag zum Training in einer Halle.
Etwa 40 mal 20 Meter misst das Kunstrasen-Spielfeld. Die Tore sind einen Meter hoch und drei Meter breit. Es gibt keinen Torwart und kein Abseits. Gespielt wird mit einem normalen Fußball, der aber nur bis Hüfthöhe geschossen werden darf. Grätschen sowie Körperkontakt sind verboten. Meist wird sechs gegen sechs gekickt.
Alle Spieler, die sich hier zum entschleunigten Kick treffen, sind S04-Fans im Alter zwischen 50 und 80 Jahren. Viele haben altersbedingte körperliche Einschränkungen.
Ausdauer und Kameradschaft
„Ich habe nach meinem Renteneinstieg 2014, ich werde jetzt 74, habe ich noch bis 70 fast in Altherrenmannschaften gespielt und zwei, drei Bekannte, die haben gesagt, dass hier so Walking Football stattfindet.“ Das sagt Heinz Rudloff. Er war in den 1970er-Jahren Profifußballer. Von Wattenscheid bis Pirmasens spielte er bei mehreren Vereinen in der 2. Bundesliga.
Beim Gehfußball, so erklärt der „alte Hase“, komme es vor allem auf Technik, Passsicherheit und Spielübersicht an. "Ich bin seit 2018 dabei. Und wenn man mal die Hintergründe, also jetzt medizinisch betrachtet, was uns das bringt, also von der Ausdauerfähigkeit, die man verbessert, Koordination, Gleichgewicht und auch Kameradschaft... ist natürlich eine Bombensache.“
Ehrgeiz kommt trotzdem nicht zu kurz
Ein zusätzlicher Anreiz ist für Heinz Rudloff und viele seiner Walking-Football-Kollegen der Wettstreit mit anderen Teams. Die Anzahl der Turniere, auch im europäischen Ausland, wächst stetig. So geht es bei den Trainingsspielen auf Schalke auch ziemlich ambitioniert zu. „Wenn kein Ehrgeiz dabei wäre, gerade bei den Turnieren, die wir haben, und wir haben ja in den letzten Jahren auch viel so gegen Bundesliga-Mannschaften, ob das vorher Wolfsburg mal war oder in Leverkusen, dass man da gewinnen will, sonst braucht man nicht auf den Platz gehen, das ist klar.“
Schalke war neben dem VfL Wolfsburg und Werder Bremen einer der ersten Vereine in Deutschland, die Walking Football anboten. Die Blau-Weißen wollten den treuen älteren Fans und Amateursportlern im Verein etwas zurückgeben. So fand die vereinseigene Stiftung „Schalke hilft“ mit dem Gehfußball etwas, was die sportliche und soziale Komponente perfekt miteinander verknüpft.
Entschleunigter Fußball kommt aus England
Boris Liebing, seit 20 Jahren bei Schalke aktiv, brachte 2017 den Gesundheitssport Walking Football, der ursprünglich aus England kommt, auf Schalke ins Rollen. Anfangs waren es fünf Interessierte, kurz vor Corona dann schon über 80. Heute kommen regelmäßig etwa 30 über 55-Jährige zu den beiden Trainingsterminen.
„Bei allem sportlichen Wettkampf steckt ja eine ganz andere Energie dahinter. Und die Grundidee ist ja wirklich die Gemeinschaft. Und das ist das, was Schalke halt eben auch ausmacht, dieses Zusammenstehen, füreinander da sein, sich helfen“, erklärt Liebing. „Und dafür steht auch diese Gruppe. Weil es natürlich Leute halt auch aus der sozialen Isolation holt und ihnen wieder einen gewissen Sinn gibt, diese Gemeinschaft, sie wieder auffängt und neuen Lebensmut vermittelt.“
In England wird Walking Football seit 2011 gespielt. Hier gibt es über tausend Klubs und 200.000 Spielerinnen und Spieler. Gekickt wird „just for fun“ und ambitioniert in organisierten Ligen. Es gibt sogar acht Nationalteams, drei für Frauen über 40, 50 und 60 Jahre und fünf für Männer über 50, 60, 65, 70 und 75 Jahre. Demnächst soll eine für über 80-Jährige dazu kommen.
Als Erfinder oder Initiator des Walking Football gilt John Croot. Der 59-Jährige ist in Personalunion Geschäftsführer des Chesterfield Community Trust, einer Art kommunaler Stiftung, und vom Fußball-Fünftligisten FC Chesterfield, der sich im Besitz der Stiftung befindet.
2010 hatte es von der englischen Football Foundation, die sich vor allem um die Entwicklung des Amateurfußballs kümmert, 20.000 Pfund Projektgelder gegeben. Für zwei Jahre sollten, egal wie, ältere Menschen ab 50 Jahren aktiviert und zusammengebracht werden.
Zunächst wurde der Sport belächelt
John Croot erinnert sich, dass seine Kollegen und Mitarbeiter lachten und das Ganze für einen Scherz hielten. Nach eingehender Recherche stellten sie jedoch fest: „Keiner spielte es, im Internet war nichts zu finden. Auch in den Vereinen und Stiftungen hatte nie jemand von Walking Football gehört. Also haben wir in Chesterfield erste Übungseinheiten für Gehfußball organisiert. Haben mit Plakaten und Anzeigen dafür geworben, über das Lokalradio und auf den Social-Media-Kanälen. Es kamen Massen von interessierten älteren Leuten. Ab da war klar, dass Walking Football sehr populär werden würde.“ Dann berichtete der private Fernsehsender Sky Sports über das einzigartige Projekt und löste einen Boom aus.
Schließlich wurde der weltweit erste Gehfußball-Verein gegründet, der noch heute existiert: die Chesterfield Senior Spireites. Malcolm Perks ist Klubvorsitzender. Er ist 65 Jahre alt. Als der leidenschaftliche Fußballer vor neun Jahren zu den Senior Spireites kam - seine Knie waren kaputt und er hatte sich zehn Jahre kaum bewegt - trafen sich lediglich zwölf ältere Herren zum „Senioren-Kick“.
Heute sind es 120 Mitglieder, und es werden vier Spiel- und Trainingstermine angeboten. „Unser ältester Spieler ist 84. Zwei sind unter 50. Das Durchschnittsalter im Verein beträgt 66 Jahre, die meisten in den 60ern und 70ern, und zwei über 80.“
Walking Football tut auch der Psyche gut
Drei Übungseinheiten finden auf zwei kleinen, hoch umzäunten Kunstrasenplätzen mit Bande statt. Im Unterschied zu Deutschland oder den Niederlanden und Belgien spielt man in England mit Torhüter oder Torhüterin. Die Tore sind entsprechend größer, und es gibt, ähnlich wie beim Handball, einen halbkreisförmigen Torraum, im Durchmesser vier bis sechs Meter von der Torlinie entfernt. Den darf der Torwart nicht verlassen und kein Spieler betreten.
Alle genießen es. Bei jedem Wetter wird gespielt. Egal, ob es stürmt, regnet oder schneit, oder ob die brennende Sonne den Schweiß noch stärker fließen lässt. Und der entschleunigte Kick tut nicht nur dem Körper, sondern auch der Psyche gut, sagt Malcolm Perks:
„Ich liebe es, noch spielen zu können. Das gilt für uns alle in dem Alter, auch wenn es etwas gemächlicher zugeht. Es ist einfach großartig. Und unser Vereinsmotto lautet: Spaß, Fitness und Freundschaft. Das versuchen wir auch zu leben.“
Erste WM musste wegen Corona verschoben werden
Unter dem Dach der Walking Football Association, kurz WFA, gibt es seit 2018 auch Nationalteams. Die erste Weltmeisterschaft, auf die alle hinfiebern, musste wegen Corona verschoben werden. Sie findet jetzt vom 24. bis 26. August im St. Georges Park in Derby statt. Organisiert vom internationalen Walking Football Verband FIWFA.
Während der WM-Vorbereitung 2020 drohte die FIFA, die Weltfußball-Dachorganisation, mit einer Rechteklage, sollte der internationale Walking Football Verband nicht Name und Logo ändern. Diese seien den eigenen, die als Markenzeichen geschützt sind, zu ähnlich. Zudem verlangte der Weltverband eine Namensänderung des geplanten Weltmeisterschaftsturniers. Er befürchtete Verwechslungen und finanziellen Schaden.
Doch die Drohgebärden verpufften, und die FIFA erkannte die FIWFA schließlich als internationale Vertretung der Walking Footballer an. Bis dahin hatten weder FIFA noch UEFA Interesse am Gehfußball gezeigt.
Der internationale Walking-Football-Verband zählt zurzeit 25 Mitglieder, darunter Japan, Südkorea und Australien, Kanada, Hong Kong, Malaysia und Singapur, Saudi-Arabien, Nigeria und Uganda. Aus Europa unter anderem Frankreich, Tschechien, Spanien, und Italien.
DFB will keine Meisterschaften organisieren
Zur WM werden 21 Nationen mit 28 Teams kommen, sagt Verbandspräsident Paul Carr. „Das wird super. Es ist das größte internationale Walking-Football-Turnier, das wir je hatten. Und wir hätten uns sehr gefreut, wenn auch Deutschland, Belgien und Holland dabei wären. Aber sie haben erklärt: Wir spielen ohne Torwart, was ich ziemlich merkwürdig finde.“
Die WM-Teilnahme einer deutschen Walking-Football-Auswahl dürfte in absehbarer Zukunft sowieso ausgeschlossen sein. Der Deutsche Fußball-Bund möchte keine Meisterschaften organisieren und schon gar keine Nationalteams. Er legt sein Hauptaugenmerk auf den Gesundheitsaspekt und setzt auf die anerkannte DOSB-Zertifizierung „Sport pro Gesundheit“.
So sollen vor allem neue Mitglieder angelockt und passive reaktiviert werden. Eine gezielte finanzielle Förderung ist nicht vorgesehen. Mittel zur Entwicklung von Walking Football können die 21 Landesverbände aus den vorhandenen Töpfen für Freizeit- und Breitensport erhalten. Ob das die zahlreichen, auch wettbewerbsorientierten Vereine zufriedenstellt, bleibt abzuwarten.
Gesellschaftlicher Nutzen: Studienlage ist umfangreich
Wie groß dieser Nutzen tatsächlich für die gesamte Gesellschaft ist, zeigen die zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Jahre. Christiane Wilke vom Institut für bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule Köln kennt die Arbeiten:
„Die beschäftigen sich primär tatsächlich mit den gesundheitlichen Auswirkungen auf unterschiedliche Zielgruppen wie ältere Personen mit Diabetes, Personen mit geistigen Behinderungen, beispielsweise, Personen mit emotional sozialen Störungen. Also es gibt eine recht umfangreiche Studienlage zu Walking Football.“
Möglicherweise wurde das Potenzial der noch jungen Sportart bislang unterschätzt. In England ist es jedenfalls der am rasantesten wachsende Sport. Insbesondere auch bei den Frauen. Aber auch hierzulande steigen die Zahlen der Gehfußballerinnen und -fußballer stetig. Wobei die Frauen noch stark in der Minderheit sind, auch beim FC Schalke 04.
DFB hat noch keine „belastbaren“ Zahlen
Während sich die Fußball-Landesverbände schon seit Jahren um Walking Football kümmern und die Entwicklung vorantreiben, hat der Deutsche Fußball-Bund als Dachverband „das Thema für sich erst im letzten Jahr entdeckt“, wie es aus dem zuständigen Ausschuss heißt. „Belastbare“ Zahlen liegen deshalb noch nicht vor.
Der DFB geht zurzeit von etwa 500 Mannschaften und gut 5.000 aktiven Gehfußballerinnen und -fußballern in Deutschland aus.