Wall-Street-Proteste laut Amerika-Forscher nur die "Spitze des Eisbergs"
Die Proteste in den USA werden sich ausweiten, sagt Josef Braml, Amerika-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Präsident Obama habe sich "über den Tisch ziehen" lassen und Sozialkürzungen zugestimmt, dabei jedoch keine Steuererhöhungen durchsetzen können.
Ute Welty: Längst ist es nicht mehr nur New York, auch in Washington, Philadelphia und Houston gehen die Menschen auf die Straße, um zu protestieren – gegen die Übermacht der Banken und gegen die Ohnmacht der eigenen Klasse. Ob wir da im Herbst den Beginn eines amerikanischen Frühlings erleben, das wollen wir jetzt wissen von Josef Braml, dem Amerika-Experten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Morgen!
Josef Braml: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Für und gegen Todesstrafe, für und gegen Abtreibung, für und gegen Obama – die Amerikaner erscheinen uns als ein recht protestfreudiges Volk. Wie müssen wir das, was da jetzt gerade geschieht, einordnen und womöglich relativieren?
Braml: Ich denke, vor allem wenn man aus russischer Perspektive hin und wieder gefragt wird, ob das jetzt hier das Ende der westlichen Welt sei, dann entgegne ich gerne, dass das in Demokratien dazugehöre und dass, wenn es eben hier sozial nicht so gut geht, keine Kartoffeln in den Vorgärten wachsen, sondern eben sich dann das auch auf der Straße zeigt.
Welty: Ein ganz normaler demokratischer Vorgang?
Braml: Ja, das würde ich so sehen. Aber wie es in der Demokratie so ist, hat das dann auch Auswirkungen auf diese weiteren demokratischen Vorgänge wie Wahlen. Solche Bewegungen soll man nicht unterschätzen, zumal wenn man als Politiker wiedergewählt werden will.
Welty: Die Behörden jedenfalls reagieren zum Teil sehr besorgt, zum Teil auch mit massiven Eingriffen und Festnahmen. Steht zu befürchten, dass die Lage eskaliert?
Braml: Ich denke, dass das, was wir jetzt sehen, erst die Spitze eines Eisberges ist, der sich erst später in seiner vollen Wucht dann zeigen wird. Ich spreche jetzt nicht von den Jugendlichen, die wir sehen, sondern vielleicht dann später auch diejenigen, die es wirklich betrifft – das sind die, die in den Armutsstatistiken aufgeführt werden.
Welty: Das heißt, die Latinos, die Schwarzen, diese Bevölkerungsgruppen, die bisher ja sich zurückhalten.
Braml: Nicht nur diese. Wenn man bedenkt, dass mittlerweile einer von zehn Amerikanern unter die Armutsgrenze fällt und die von Ihnen angesprochenen Gruppen hier besonders betroffen sind – hier ist jeder Dritte von Armut betroffen, deren Kinder haben teilweise nicht mehr genug zu essen –, dann muss man sehen, dass hier vielleicht noch sehr viel mehr Potenzial vorhanden ist.
Welty: Das Potenzial der Protestierer auf der einen Seite, aber wie viel Potenzial denn in der Wirkung, was kann dieser Protest bewegen, was kann er erreichen?
Braml: Man hat es ja schon auf der rechten Seite gesehen. Viele haben die Tea-Party-Bewegungen nicht richtig verstanden, viele meinten, das wäre jetzt eine Bewegung gegen den vermeintlichen Sozialisten Obama im Weißen Haus, aber wer genauer hinsah, sah, dass es hier eine Bewegung, eine Graswurzelbewegung der Republikaner gegen George W. Bush war, der ja seinerseits mit 800 Milliarden die Banken hier rausgehauen hatte, wie man das so sagt. Und diese Tea-Party-Bewegung hat dann auch dafür gesorgt, dass viele dieser Anhänger in den Kongress gewählt wurden und viele rausgewählt wurden, die damals Bush mit unterstützt haben, die Banken zu retten.
Welty: Und dieser Protest jetzt, dass der gerade aufkommt in einer Amtszeit eines demokratischen Präsidenten, überrascht Sie das?
Braml: Ja, viele sind enttäuscht von Obama. Das sind zum einen auch Umweltverbände, die enttäuscht von ihm sind, weil er die Smog-Regelungen, die Environmental Protection Agency wieder ein bisschen relativiert hat, aber es sind vor allem auch viele, die von ihrem vermeintlichen Heilsbringer erwartet haben, dass er die Wirtschaft wieder in Gang bringt. Die Wirtschaft ist weiterhin prekär, es wäre auch verwunderlich gewesen, wenn es Obama so schnell gelungen wäre, aber hier denke ich, bahnt sich Druck an, der hier auch die Demokraten mit voller Wucht erwischen wird.
Welty: Wie muss Barack Obama Ihrer Meinung nach jetzt reagieren? Sie kennen ja das Geschäft, Ende der 90er waren Sie als legislativer Berater im Abgeordnetenhaus in Washington – welche Strippen sind da jetzt zu ziehen?
Braml: Er hat es sehr schwer. Ein Kopf der Exekutive in Amerika hat ja nicht die Möglichkeit der Parteidisziplin, um damit durchregieren zu können oder teilweise das Parlament außen vor zu lassen. Der Kongress ist auf Augenhöhe mit dem Präsidenten, und der Präsident hat es schwer, oft auch seine Parteigenossen auf Linie zu bringen. Das werden wir noch häufiger sehen, genauso wie es auf der anderen Seite den Republikanern nicht gelingt, gemeinsame Front zu machen.
Obama hat es sehr schwer, mit dem Kongress oder vor allem jetzt gegen den Kongress seine Wirtschaftsförderprogramme durchzuziehen. Ich halte das alles für Wahlkampfgerede, diese 400 Milliarden, die er wieder einsetzen wird oder will, er wird diese Gelder nicht bekommen. Ich denke, dass das politische System bis zu den Wahlen blockiert bleibt.
Welty: In der Praxis stehen da auch noch Schulden auf der Rechnung in Höhe von etwa 1700 Milliarden Euro – wo bleibt da Spielraum für überhaupt irgendeine Entscheidung, die den Protesten im wahrsten Sinne des Wortes Rechnung tragen könnte?
Braml: Obamas Spielraum ist wegen dieser Schuldenfalle massiv eingeschränkt. Ich denke, er hatte damals bei der Auseinandersetzung über die Schuldenobergrenze im August einen schweren Fehler gemacht, er hat sich meines Erachtens über den Tisch ziehen lassen, Sozialkürzungen zugestimmt, die wir ja dann noch sehen werden, ohne gleichzeitig Steuererhöhungen zu bekommen. Man kann ja Schulden abbauen, indem man Ausgaben kürzt oder aber auch Einnahmen erhöht. Wenn mittlerweile selbst Milliardäre schon sich darüber beschweren, dass deren Sekretärinnen mehr Steuern zahlen als sie selbst, dann denke ich, könnte man doch vielleicht den Gegner ein bisschen mehr unter Druck setzen, hier auch Steuern zu erhöhen.
Welty: Und die Republikaner werden von dieser Diskussion und von diesen Protesten am Ende des Tages profitieren?
Braml: Ja, diese Republikaner in unserem Sinne, im Sinne einer geschlossenen Partei gibt es eben auch nicht. Man hat ja auch gesehen, dass John Boehner, der vermeintliche Mehrheitsführer, überfordert war, die Tea Party damals einzubinden. Er hatte ja mit Obama diesen Deal ausgehandelt, ist seinerseits an seinen Republikanern gescheitert. Nur ich denke, dass damals Obama nicht hart genug geblieben ist, vielleicht auch, weil er die Keule der Ratingagenturen im Nacken wähnte, die Amerika damit drohten, die Bonität herabzustufen, hat er sich vorschnell auf diesen Deal eingelassen. Die Meute der Ratingagenturen ist jetzt weitergezogen, vielleicht hat er damit recht gehabt, die haben sich jetzt wieder auf Europa eingebissen, aber ich denke, dass die Schuldenproblematik, die massiven wirtschaftlichen Probleme in Amerika uns sehr schnell wieder sehr viel mehr beschäftigen werden.
Welty: Josef Braml von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, ich danke für diese Einschätzungen!
Braml: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Josef Braml: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Für und gegen Todesstrafe, für und gegen Abtreibung, für und gegen Obama – die Amerikaner erscheinen uns als ein recht protestfreudiges Volk. Wie müssen wir das, was da jetzt gerade geschieht, einordnen und womöglich relativieren?
Braml: Ich denke, vor allem wenn man aus russischer Perspektive hin und wieder gefragt wird, ob das jetzt hier das Ende der westlichen Welt sei, dann entgegne ich gerne, dass das in Demokratien dazugehöre und dass, wenn es eben hier sozial nicht so gut geht, keine Kartoffeln in den Vorgärten wachsen, sondern eben sich dann das auch auf der Straße zeigt.
Welty: Ein ganz normaler demokratischer Vorgang?
Braml: Ja, das würde ich so sehen. Aber wie es in der Demokratie so ist, hat das dann auch Auswirkungen auf diese weiteren demokratischen Vorgänge wie Wahlen. Solche Bewegungen soll man nicht unterschätzen, zumal wenn man als Politiker wiedergewählt werden will.
Welty: Die Behörden jedenfalls reagieren zum Teil sehr besorgt, zum Teil auch mit massiven Eingriffen und Festnahmen. Steht zu befürchten, dass die Lage eskaliert?
Braml: Ich denke, dass das, was wir jetzt sehen, erst die Spitze eines Eisberges ist, der sich erst später in seiner vollen Wucht dann zeigen wird. Ich spreche jetzt nicht von den Jugendlichen, die wir sehen, sondern vielleicht dann später auch diejenigen, die es wirklich betrifft – das sind die, die in den Armutsstatistiken aufgeführt werden.
Welty: Das heißt, die Latinos, die Schwarzen, diese Bevölkerungsgruppen, die bisher ja sich zurückhalten.
Braml: Nicht nur diese. Wenn man bedenkt, dass mittlerweile einer von zehn Amerikanern unter die Armutsgrenze fällt und die von Ihnen angesprochenen Gruppen hier besonders betroffen sind – hier ist jeder Dritte von Armut betroffen, deren Kinder haben teilweise nicht mehr genug zu essen –, dann muss man sehen, dass hier vielleicht noch sehr viel mehr Potenzial vorhanden ist.
Welty: Das Potenzial der Protestierer auf der einen Seite, aber wie viel Potenzial denn in der Wirkung, was kann dieser Protest bewegen, was kann er erreichen?
Braml: Man hat es ja schon auf der rechten Seite gesehen. Viele haben die Tea-Party-Bewegungen nicht richtig verstanden, viele meinten, das wäre jetzt eine Bewegung gegen den vermeintlichen Sozialisten Obama im Weißen Haus, aber wer genauer hinsah, sah, dass es hier eine Bewegung, eine Graswurzelbewegung der Republikaner gegen George W. Bush war, der ja seinerseits mit 800 Milliarden die Banken hier rausgehauen hatte, wie man das so sagt. Und diese Tea-Party-Bewegung hat dann auch dafür gesorgt, dass viele dieser Anhänger in den Kongress gewählt wurden und viele rausgewählt wurden, die damals Bush mit unterstützt haben, die Banken zu retten.
Welty: Und dieser Protest jetzt, dass der gerade aufkommt in einer Amtszeit eines demokratischen Präsidenten, überrascht Sie das?
Braml: Ja, viele sind enttäuscht von Obama. Das sind zum einen auch Umweltverbände, die enttäuscht von ihm sind, weil er die Smog-Regelungen, die Environmental Protection Agency wieder ein bisschen relativiert hat, aber es sind vor allem auch viele, die von ihrem vermeintlichen Heilsbringer erwartet haben, dass er die Wirtschaft wieder in Gang bringt. Die Wirtschaft ist weiterhin prekär, es wäre auch verwunderlich gewesen, wenn es Obama so schnell gelungen wäre, aber hier denke ich, bahnt sich Druck an, der hier auch die Demokraten mit voller Wucht erwischen wird.
Welty: Wie muss Barack Obama Ihrer Meinung nach jetzt reagieren? Sie kennen ja das Geschäft, Ende der 90er waren Sie als legislativer Berater im Abgeordnetenhaus in Washington – welche Strippen sind da jetzt zu ziehen?
Braml: Er hat es sehr schwer. Ein Kopf der Exekutive in Amerika hat ja nicht die Möglichkeit der Parteidisziplin, um damit durchregieren zu können oder teilweise das Parlament außen vor zu lassen. Der Kongress ist auf Augenhöhe mit dem Präsidenten, und der Präsident hat es schwer, oft auch seine Parteigenossen auf Linie zu bringen. Das werden wir noch häufiger sehen, genauso wie es auf der anderen Seite den Republikanern nicht gelingt, gemeinsame Front zu machen.
Obama hat es sehr schwer, mit dem Kongress oder vor allem jetzt gegen den Kongress seine Wirtschaftsförderprogramme durchzuziehen. Ich halte das alles für Wahlkampfgerede, diese 400 Milliarden, die er wieder einsetzen wird oder will, er wird diese Gelder nicht bekommen. Ich denke, dass das politische System bis zu den Wahlen blockiert bleibt.
Welty: In der Praxis stehen da auch noch Schulden auf der Rechnung in Höhe von etwa 1700 Milliarden Euro – wo bleibt da Spielraum für überhaupt irgendeine Entscheidung, die den Protesten im wahrsten Sinne des Wortes Rechnung tragen könnte?
Braml: Obamas Spielraum ist wegen dieser Schuldenfalle massiv eingeschränkt. Ich denke, er hatte damals bei der Auseinandersetzung über die Schuldenobergrenze im August einen schweren Fehler gemacht, er hat sich meines Erachtens über den Tisch ziehen lassen, Sozialkürzungen zugestimmt, die wir ja dann noch sehen werden, ohne gleichzeitig Steuererhöhungen zu bekommen. Man kann ja Schulden abbauen, indem man Ausgaben kürzt oder aber auch Einnahmen erhöht. Wenn mittlerweile selbst Milliardäre schon sich darüber beschweren, dass deren Sekretärinnen mehr Steuern zahlen als sie selbst, dann denke ich, könnte man doch vielleicht den Gegner ein bisschen mehr unter Druck setzen, hier auch Steuern zu erhöhen.
Welty: Und die Republikaner werden von dieser Diskussion und von diesen Protesten am Ende des Tages profitieren?
Braml: Ja, diese Republikaner in unserem Sinne, im Sinne einer geschlossenen Partei gibt es eben auch nicht. Man hat ja auch gesehen, dass John Boehner, der vermeintliche Mehrheitsführer, überfordert war, die Tea Party damals einzubinden. Er hatte ja mit Obama diesen Deal ausgehandelt, ist seinerseits an seinen Republikanern gescheitert. Nur ich denke, dass damals Obama nicht hart genug geblieben ist, vielleicht auch, weil er die Keule der Ratingagenturen im Nacken wähnte, die Amerika damit drohten, die Bonität herabzustufen, hat er sich vorschnell auf diesen Deal eingelassen. Die Meute der Ratingagenturen ist jetzt weitergezogen, vielleicht hat er damit recht gehabt, die haben sich jetzt wieder auf Europa eingebissen, aber ich denke, dass die Schuldenproblematik, die massiven wirtschaftlichen Probleme in Amerika uns sehr schnell wieder sehr viel mehr beschäftigen werden.
Welty: Josef Braml von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, ich danke für diese Einschätzungen!
Braml: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.