Walle Sayer: "Mitbringsel"

Sedimente des Alltags

05:39 Minuten
Das Cover des Gedichtbands "Mitbringsel" von Walle Sayer zeigt grobe Pinselstriche in Blau, Schwarz, Gelb und Violett, die an Bücherstapel erinnern.
Die Gedichte des Lyrikers Walle Sayer in dem Band "Mitbringsel" beruhen auf Alltagsbeobachtungen. © Cover: Verlag Klöpfer/Narr
Von André Hatting |
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Walle Sayer verdichtet in "Mitbringsel" das Unauffällige und Unscheinbare auf berührende Weise. Die besten Gedichte funktionieren wie Kinderzeichnungen und beweisen, dass schlicht nicht schlecht sein muss. Im Gegenteil.
Strohhalme, der Inhalt einer Streichholzschachtel und jetzt eben "Mitbringsel", die Titel seiner Gedichtbände, stattliche acht sind seit 1994, weisen den Weg. Schmale Pfade sind es eher. Sie führen in das "Alltägliche, das Unscheinbare, das Unauffällige", wie Walle Sayer es formuliert. Zum Beispiel in die Szenen einer langen, langen Ehe:
Kleine Aufrechnung
Seine Schnäpschen, ihre Schnäppchen
Ihr Beleidigttun, seine Ehrenkäsigkeit.
Seine Kegelbrüder, ihre Betschwestern.
Ihr umsomehr, sein nichtsdestotrotz.
Sein Werkstattdunkel, ihr Nähzimmerlicht.
Ihr Vertrödeln, seine Schrittmeditation.
Sein Taubenschlag, ihr Hühnerstall.
Ihr Teelöffelmaß, seine Wasserwaage.
Dieses Paradoxon ritualisierten Einvernehmens im totalen Unverständnis ist nicht nur schön beobachtet, sondern auch gekonnt verdichtet.

Ein "Vor" und ein "Nach" der Rechtschreibreform

Der 59-Jährigen Schwabe richtet seinen lyrischen Lichtkegel auf das, was als Sediment im Alltagsflussbett liegen bleibt, als Strandgut bei Gedankengängen angespült wird, was für alle erkennbar daliegt, aber dann eben doch nur die wenigsten sehen: "Daß oder dass es / im Hochsommer noch hell ist / wenn die Bäcker sich schlafen legen [...]". Diese banale, saisonale Beobachtung ist an sich nichts Besonderes. Aber durch die minimale orthografische Veränderung lässt Sayers Kalenderblatt uns mit voller sanfter Wucht spüren, wie vergänglich auch der Alltag ist: Es gibt ein Vor und ein Nach der Rechtschreibreform.
Ein Kapitel hat Walle Sayer seinem in diesem Jahr verstorbenen Vater gewidmet. Diese Gedichte sind Annäherungen aus beiden Richtungen, nicht nur reine Außenansicht. Wie der Sohn auch in die Perspektive des greisen Vaters zu schlüpfen versucht, berührt besonders.

Zauber der Schlichtheit

Walle Sayers Texte sind keine komplexen Bedeutungsgeflechte, jede und jeder kann sie völlig voraussetzungsfrei verstehen, hier ist immer Tag des offenen Verses. Seine Neigung zu prädikatsfreien Zeilen - "Das Mädchen in der Jungsmannschaft." / Der Jadginstinkt von Wohnungskatzen" etc. - bringt ihn in die Nähe dessen, was Ann Cotten einmal "Konstatierungslyrik" genannt hat, die "bloß die aufgeladenen Requisiten bereitstellt", unterkomplex sei und deshalb "Quatsch und Elend!"
Wer so radikal dem Zauber der Schlichtheit vertraut, geht in der Tat das Risiko ein, beliebig zu werden. Die Poesie des Alltags kippt dann um in Allerweltspoesie, bei der Archaismen wie "einstens" oder Inversionen à la "sich sonnt auf ihm" dem Gedicht etwas Butzenscheibenhaftes verleihen. Aber das sind die Ausnahmen. Sayers Lyrik ist eher ein Beweis dafür, dass schlicht nicht schlecht bedeuten muss. Die besten seiner Gedichte funktionieren wie eine Kinderzeichnung, über die Walle Sayer in der Schlussstrophe schreibt: "Dies ist als Dokument / ein Tagesvisum, / das überall gilt."

Walle Sayer: "Mitbringsel". Gedichte
Klöpfer/Narr, Tübingen 2019
121 Seiten, 20 Euro

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