Wallenstein - einer von uns

Von Tilman Krause |
Eines langen Tages Reise in die Nacht wird es wieder werden, um den Titel eines Theaterstücks von Eugene O' Neill zu zitieren. Nicht zwei langer Tage, wie es bei Peter Steins "Faust" in der Treptower Arena vor sechs Jahren war. Aber zehn Stunden lang wird man doch mehr oder minder andächtig auf unbequemen Stühlen sitzen müssen, um alle drei Teile des "Wallensteins" in sich aufzunehmen. Und man wird es gerne tun. Die 30 Vorstellungen werden, wenn nicht alles täuscht, ihr Publikum finden. Ein begeistertes Publikum, das endlich wieder einen Klassiker so aufgeführt sehen will, dass man ihn auch wiedererkennt.
Berlin dürfte eine Sensation auch deshalb bei diesem Schiller-Marathon erleben, weil uns Peter Stein ohne allen modischen Schnickschnack vorführen wird, dass Schillers Held oder besser Antiheld jemand ist, der viel mit uns zu tun hat. Der ein moderner Mensch ist. Ja, ein Zeitgenosse, der insbesondere die große Welt der Politik erfährt wie unsereins: als undurchschaubar, fremd und willkürlich. In diese Richtung zielen jedenfalls alle Äußerungen von Peter Stein, mit denen er in den vergangenen Tagen und Wochen seine Arbeit kommentiert hat.

Im berühmten Prolog, welcher der Wallenstein-Trilogie vorgeschaltet ist, hat Schiller die bekannten Worte über den bedeutenden Feldherren des Dreißigjährigen Krieges geprägt: "Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte."

Das tut der Herzog von Friedland in der Geschichtswissenschaft von heute aber keineswegs. Historiker wie Hellmut Diewald oder Golo Mann haben ihn glanzvoll rehabilitiert. Er gilt uns heute nicht nur als ein epochaler Heerführer und Stratege, sondern auch als weit blickender Wirtschaftsführer, der sein Herzogtum Friedland zu einem Musterstaat nahezu moderner Prägung umschuf. Auch sein angeblicher Verrat wird nach der Auffindung neuer Quellen anders bewertet und als Propagandalüge seiner Widerspieler, der Kaiserlichen, betrachtet.

Der historische Wallenstein ist also keineswegs der Wallenstein, den Schiller vor uns hinstellt. Denn Schiller hat mit seinem Wallenstein eine Figur schaffen wollen, die alle Eigenschaften besitzt, die ein erfolgreicher Machtmensch haben muss - und trotzdem scheitert. Warum? Weil man in der Politik nur scheitern kann. Jawohl, der Dichter, der den Fiesco und den Don Carlos neu erdachte, der Johanna von Orleans und Wilhelm Tell auf die Bühne brachte, Figuren von großer Geschichtsmächtigkeit also, er zeigt uns dieses eine Mal den homo politicus als jemanden, der eigentlich nichts mehr durchzusetzen vermag.

Natürlich gibt es für Wallensteins Zaudern, für seine Entscheidungsschwäche und sein Übermaß an Reflexion ein großes Vorbild in der klassischen Theaterliteratur, und das ist Shakespeares Hamlet. Doch dieser Prinz von Dänemark trägt bekanntlich noch keine Verantwortung. Er kann sich seine Skrupel quasi leisten. Das verhält sich bei Wallenstein ganz anders. Er ist bereits, wenn Schillers Stück losgeht, ein Mann von Einfluss und Gestaltungsspielraum, wird selbst von seinen Feinden respektiert, ja gefürchtet. Und dennoch verstrickt er sich heillos ins Dickicht der Politik, in der er Mächte am Werk sieht, die größer sind als er und die er trotzdem nicht identifizieren kann.

Damit hat Schiller einen Prototyp geschaffen, den vor allem die Literatur des 19. Jahrhundert immer wieder heraufbeschwören sollte mit seinen Fabrice del Dongos und Frédéric Moreaus: den Mann, der in die große Politik verwickelt wird und überhaupt nicht weiß, wie ihm dabei geschieht.

Vielleicht liegt auch hier einer der Gründe, warum Schillers Wallenstein-Trilogie so selten gespielt wird: weil es im Theater im Gegensatz zum Roman einfach sehr frustrierend ist, wenn man es mit einer Mittelpunktsfigur zu tun bekommt, die, wiewohl am Puls des Geschehens, nichts auszurichten vermag.

Erst unsere Zeit mit ihrer Erfahrung, dass Regierungen machtlos sind, dass die Politik von Kräften bestimmt wird, die wir nicht identifizieren können, dass, egal wen man wählt, im Grunde alles weitergeht wie bisher und dass die Wende, wenn sie denn endlich kommt, eher "der" Wirtschaft zugeschrieben werden muss als irgendwelchen Politikern: Erst unsere Zeit ist reif für Wallenstein. Erst unsere Zeit kann wahrscheinlich ganz ermessen, wie hellseherisch Schiller vorweggenommen hat, was uns umtreibt. Erst unsere Zeit hat jenen Grad an Desillusioniertheit erreicht, dass sie sagen kann: Wallenstein, jawohl, das ist im Grunde einer von uns.

Tilman Krause, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dortselbst 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten "Literaturpapst" der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die "FAZ" (1990-1994) und den "Tagesspiegel" (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der "WELT".