Gibt es eine neue Klassengesellschaft in Deutschland? Warum ist der individuelle Aufstieg so schwer? Und was könnten Politik und Wirtschaft dagegen tun? Mit solchen Fragen beschäftigen wir uns 2022 in unserem Programm vermehrt. Weitere Reportagen und Interviews zu dieser Denkfabrik unter dem Motto "Von der Hand in den Mund. Wenn Arbeit kaum zum Leben reicht" finden Sie hier.
Günter Wallraff über Armut
Mitarbeiter im Amazon-Verteilzentrum in Großebersdorf schleppen Pakete durch die Gänge. © picture alliance / Hans Klaus Techt
„Wir leben in einer Kastengesellschaft“
08:37 Minuten
Extremer Reichtum auf der einen, Armut und Erschöpfung auf der anderen Seite: Der Journalist Günter Wallraff warnt vor einem zunehmenden Riss in unserer Gesellschaft. Das untere Drittel der Bevölkerung fühle sich abgehängt und nicht mehr dazugehörig.
Enthüllungsjournalist Günter Wallraff beklagt ein zunehmendes Auseinanderdriften der Gesellschaft:
„Die Gesellschaft zerfällt immer mehr in sich immer mehr konzentrierende Superreiche und eine zunehmend abgehängte verarmende Schicht. Das unterste Drittel der Bevölkerung ist mittellos oder hat Schulden, und die obersten zehn Prozent halten allein zwei Drittel des Vermögens in ihren Händen und das Tendenz steigend.“
Die verschiedenen Gesellschaftsschichten hätten dabei immer weniger miteinander zu tun, sagt Wallraff:
„Wenn man nur unter sich ist, verliert man den Blick für ein Drittel der Bevölkerung, das besitzlos ist oder sogar Schulden hat und sich nicht vertreten fühlt. Es fehlen auch diejenigen in den Parlamenten, die aus solchen Familien kommen, die das zu spüren bekommen haben, die sich da auskennen. Und von daher leben wir wirklich in einer – Klassengesellschaft ist schon überholt – Kastengesellschaft, man bleibt unter sich, man weiß gar nicht, wie es denen geht, mit denen man kaum etwas zu tun hat. Man lebt in eigenen Wohnvierteln, besucht andere Schulen, hat andere Konsumgewohnheiten, ist in anderen Klubs, hat andere Sprachcodes: Man lebt nebeneinander her.“
Prekäre Jobs sind "Ausbeutung im extremsten Sinne"
Wallraff wurde in den 1970er- und 80er-Jahren durch seine Enthüllungsreportagen bekannt. So schlüpfte er in die Rolle des Gastarbeiters Ali und deckte so undercover Missstände z. B. bei Thyssen auf. Sein Buch „Ganz unten“ dokumentierte seine Arbeit und wurde zum Bestseller.
Auch heute ist Wallraff noch an Undercover-Reportagen beteiligt. So fuhr er bei Amazon-Fahrern mit, um über deren Arbeitsbedingungen zu berichten:
„Ich bin da mitgefahren. Wir waren zehn bis zwölf Stunden, manchmal 14 Stunden unterwegs, um das Soll zu erfüllen. Wenn man das dann ausrechnet auf einen Stundenlohn, dann kamen da vielleicht drei, vier Euro raus. Sie sehen ja, wie abgehetzt diejenigen vor der Türe stehen und nicht mehr ein und aus wissen, oft sprachlich noch gehandicapt sind. Darum sind Flüchtlinge in diesen Jobs auch so willkommen. Es ist eine Ausbeutung im extremsten Sinne und innerhalb unserer Politik gibt es keine Lobby für die.“
"Kaste der Unberührbaren"
Die Menschen, die diese Jobs machen, seien „eine Kaste der Unberührbaren, die keine Lobby haben, die keinen Fürsprecher haben in der Politik, weil sie abgehängt sind.“ Sie würden in diesen Jobs „verschlissen“, so Wallraff. Das bleibe nicht ohne Folgen für die Betroffenen.
Das Fazit von Wallraff: „Ein Drittel der Gesellschaft fühlt sich abgehängt, nicht mehr dazugehörig, sie sehen sich auch nicht mehr vertreten in den Parteien, sie gehen nicht mehr zur Wahl, sie bleiben unter sich, sie sind resigniert und entsprechend haben sie auch schwerste, ja man kann schon von Erkrankungen, von Depressionen, sprechen.“