Walt Whitman: Jack Engles Leben und Abenteuer
Aus dem amerikanischen Englisch von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli
Nachwort von Wieland Freund
Manesse Verlag, München 2017
192 Seiten, 22 Euro
Neuer Roman vom Dichter der Demokratie
Walt Whitman gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Lyriker. Jetzt ist 125 Jahre nach seinem Tod ein kleiner Roman aufgetaucht. Auch hier besticht der große Dichter der Einheit durch seine klare Weltvorstellung von einen Leben, das von allen gemeinsam gestaltet wird.
Walt Whitman wurde 1819 als Sohn eines Zimmermanns auf Long Island geboren und führte ein unstetes Leben. Verließ die Schule mit elf, wurde Laufjunge bei einem Anwalt, Lehrling in einer kleinen Zeitung und schrieb erste Gedichte. Er war Sanitäter im Bürgerkrieg, später Lehrer und gilt heute neben Emily Dickinson als einer der wichtigsten amerikanischen Lyriker.
"Grashalme" heißt sein vielleicht berühmtester Gedichtband, den es in mindestens acht verschiedenen Auflagen gibt, weil er ihn bis zu seinem Tod immer wieder überarbeitete. Die Gedichte brachten ihm eine Kündigung ein – sein Chef in der Behörde, in der Whitman arbeitete, setzte ihn auf die Straße, weil er den Inhalt anrüchig, ja pornografisch fand. Vor allem aber brachte der Band dem Dichter Ruhm und anhaltenden Nachruhm. Whitman besingt darin die Freiheit des Menschen – Mann oder Frau – sich zu entfalten, er feiert die Schönheit der Natur, des Körpers, der Leidenschaft und die Vielfalt des Lebens in einer Demokratie.
Whitman hat wenig Prosa geschrieben. Und was er schrieb, wurde meist kaum wahrgenommen. Doch ist jetzt, 125 Jahre nach seinem Tod, ein kleiner Roman aufgetaucht, in dem er mit Neugier, Lust und sinnlicher Phantasie das Leben und die Freiheit in einer zwischen Konvention und Modernität mäandernden Sprachmelodie feiert. Jack Engles heißt der kleine abgerissene Kerl, der eines Tages bei dem New Yorker Wurstbräter Ephraim Foster auf der Schwelle steht und um ein Frühstück bittet. Der barmherzige Lebensmittelhändler schickt ihn hinaus, den Bürgersteig zu fegen, gibt ihm zu essen und nimmt den elternlosen Straßenjungen an Kindes Stelle an.
Whitman ist weniger vergrübelt als in den späten Gedichten
Mit 20 tritt Jack auf Wunsch seines Vaters eine Lehrlingsstelle bei einem Advokaten namens Covert an. Ein böser Geist, wie Jack bald begreift. Ohnehin langweilt ihn die Juristerei. Er will die Welt sehen und die Welt schreiben. Aber bald nimmt das Leben bei dem Gauner Covert die Form eines Romans an – mit Geschichten voller Begierde, Verrat, Mord und Betrug.
Es hat nämlich der stets ein wenig alkoholisierte alte Anwaltsgehilfe der Kanzlei, ein Mann mit einer schönen Seele, akribisch die Machenschaften seines Brotherrn recherchiert und Scheußliches zutage gefördert. Der Advokat will nicht nur sein schönes und reiches Mündel Martha für sich, sondern auch das Geld, das unserem Helden zusteht, dessen Herkunft er boshaft verschweigt. Die Geheimnisse seien hier nicht gelüftet, weil sich ein so schöner kleiner Thriller facettenreich entfaltet.
Whitman ist in diesem Roman weniger vergrübelt als in den späteren Gedichten, doch seine Weltvorstellung ist klar umrissen. Er beschreibt in selbstverständlicher Gelassenheit, wie Menschen – egal woher sie kommen, woran sie glauben, aus welcher Schicht sie stammen – als gesellschaftliche Wesen miteinander agieren: Tänzerin, Maschinenschlosser oder Erbin, Juden oder Quäker.
Es singt der große Dichter der Demokratie auch hier das Lied von der Einheit, die von allen gemeinsam gestaltet wird. Und so ist dieser bezaubernde und auch ergreifende kleine Roman gerade jetzt in unseren oft so engköpfigen Zeiten eine sehr zu empfehlende Lektüre.