Walter Benjamin und das Bauhaus

Befreites Wohnen für neue Menschen

06:13 Minuten
Von Le Corbusier entworfen: Maison La Roche, 1923/1925.
Maison La Roche von Le Corbusier, dessen Häuser Walter Benjamin bewunderte: "Luft weht durch sie." © imago/viennaslide
Von Klaus Englert |
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Der Philosoph Walter Benjamin war ein feinsinniger Beobachter der europäischen Kultur - und zugleich ein revolutionärer Marxist. Beides kommt zusammen in seinen Gedanken über Architektur: Im neuen Bauen sah er einen Wegbereiter der Revolution.
Der Philosoph Walter Benjamin wählt in seinen Pariser Exiljahren 1933-1940 die Bibliothèque Nationale als zweite Heimstatt. Dort richtet er sich "wohnlich" ein, wie er an Theodor W. Adorno nach Amerika schreibt. Wegen seiner prekären und wechselnden Privatunterkünfte dehnt er den Aufenthalt in der Bibliotheks-Wohnung so weit wie möglich aus. Und hier in der Pariser Bibliothek legt er die Wurzeln der modernen europäischen Kultur frei, hier widmet er sich den Geschäfts-Passagen und den intimen Wohngemächern des fin de siècle, die er in seiner Berliner Kindheit erlebt hatte.

Die bürgerliche Wohnung: Schlachtfeld des Warenkapitals

Die Gründerzeit-Wohnung beschreibt er ausführlich in dem unvollendet gebliebenen Passagen-Werk. "Die Familie bewohnte eine Villa in Grunewald", erzählt Ursula Marx vom Berliner Walter Benjamin-Archiv, "Benjamin prägte ja den Begriff des bürgerlichen Interieurs. Damit meinte er ein überladendes Mobiliar mit Polstersesseln, Decken und Samtüberzügen. Er hat einmal im Moskauer Tagebuch geschrieben, dass solche Kleinbürgerzimmer Schlachtfelder seien, über die der verheerende Ansturm des Warenkapitals siegreich dahingefegt sei. Es kann nichts Menschliches mehr da gedeihen."
Walter Benjamin beschreibt das 19. Jahrhundert als "wohnsüchtig". Das Bürgertum zog sich zurück in seine Wohnhöhlen und tauchte ab in den Weltinnenraum. Umgeben war man von "ausschweifender Tapezierkunst" und Heerscharen von Nippesartikeln, eingehüllt in Etuis und Gehäuse. "Ich glaube, dagegen hat er sich gewandt", sagt Ursula Marx, "Dinge gaben die Stimme vor und haben eigentlich das Handeln der Menschen geleitet."

Außen ist das neue Innen

Auslöser von Benjamins Wohnstudien war seine Auseinandersetzung mit den Pariser Geschäfts-Passagen - langen öffentlichen Gängen, die von Glasdächern überwölbt waren. Besonders angetan hatte es ihm die "Gläserne Galerie" des Palais Royale, die mit Theatern, Bädern, Cafés, Lesekabinetten und Geschäften ausgestattet war. Diese Galerie beeindruckte auch den Sozialutopisten Charles Fourier, weshalb ihm für die Bewohner seines Phalanstère-Palastes eine Art Palais Royale des Volkes mit öffentlicher Galerie vorschwebte.
Zwischen der offenen Atmosphäre der Galerien und der modernen Wohnung besteht für Benjamin ein enger Zusammenhang. "Die Pariser machen die Straße zum Interieur. Die Straßen sind die Wohnung des Kollektivs", schreibt er in seinem "Passagen"-Werk. "Die Passage war für Benjamin eine Mischform zwischen Straße und Innenraum", erklärt Ursula Marx, "und damit auch ein Vorläufer der modernen Architektur."
Zustimmend notiert Benjamin eine Äußerung von Sigfried Giedion: "Die Häuser Corbusiers sind weder räumlich noch plastisch: Luft weht durch sie! Luft wird konstituierender Faktor! Es gilt dafür weder Raum noch Plastik, nur Beziehung und Durchdringung! Es gibt nur einen einzigen unteilbaren Raum. Zwischen Innen und Außen fallen die Schranken."

Das Glashaus als "revolutionäre Tugend"

Walter Benjamin liest in der Bibliothèque Nationale begierig die neuen Werke von Le Corbusier, dem neuen Gott am Architektenhimmel. Ebenso von Sigfried Giedion, dem Generalsekretär der internationalen Avantgardistenvereinigung CIAM. Giedion, der Walter Gropius am Weimarer Bauhaus kennen lernte, prägte das Vokabular der modernen Wohnung. Sie solle möglichst leicht, transparent und mobil sein. Das war das Credo der jungen Avantgardisten, die sich ein Leben hinter Glas herbeisehnten.
Das ist auch für Walter Benjamin das Wohnmodell der Zukunft. "Im Glashaus zu leben, ist eine revolutionäre Tugend par excellence", schreibt er. "Dem Wohnen im alten Sinne, dem die Geborgenheit an erster Stelle stand, hat die Stunde geschlagen. Giedion, Mendelsohn, Corbusier machen den Aufenthaltsort von Menschen vor allem zum Durchgangsort aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft. Was kommt, steht im Zeichen der Transparenz."
Walter Benjamin vertieft sich in die Eisenkonstruktionen der Bahnhöfe, Warenhäuser, Markthallen und Pavillons die ein ganz neues Bauen mit viel Glas ermöglichten. Er stellt dabei fest, dass Straßen und Passagen das Lebensgefühl der Menschen verändern, aber auch, dass die neuen Interieurs die Lebensgewohnheiten verwandeln. "Die Straße wird Zimmer und das Zimmer wird Straße", notiert der deutsche Exilant.

Glaskultur gegen Sesshaftwerdung

Walter Benjamin teilt das Interesse am Wohnen mit seinem Freund Bert Brecht. Stundenlang diskutiert er mit ihm an der Côte d’Azur über die "befreite Wohnung" als neue Lebensform. Beide sind fasziniert von der "Glaskultur", weil sie den Menschen davon abhält, sich darin sesshaft zu machen und nur noch seinen alten Gewohnheiten nachzugehen. Noch 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, schreibt Benjamin im Pariser Exil: "Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln."
Leider wurde der jüdische Marxist Walter Benjamin in seiner Hoffnung enttäuscht: Was unter den Nationalsozialisten folgte, ist bekannt. Heute macht sich die junge Architektengeneration daran, mit den neuen technischen Mitteln Benjamins Glaskultur zu verwirklichen.
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