Walter Benjamins "Engel der Geschichte"

Wir brauchen einen Engel, der nach vorne schaut

Paul Klees Zeichnung "Angelus Novus" zeigt in Tusche und Ölkreide auf bräunlichem Papier eine geflügelte Figur mit aufgerissenen Augen und Mund.
Von Paul Klees Zeichnung "Angelus Novus" fühlte sich Walter Benjamin zu seinem "Engel der Geschichte" inspiriert. © picture alliance / Heritage Images / Fine Art Images
Gedanken von Mathias Greffrath |
Walter Benjamins "Engel der Geschichte" blickt in die Vergangenheit, sieht dort nur Zerstörung. Für die Zukunft ist er blind. Auch wir könnten heute einen Engel brauchen, meint Publizist Mathias Greffrath. Aber einen, der die Zukunft fest im Blick hat.
Die kleine Pause ist zu Ende, das Jahr nimmt Fahrt auf. Beruhigend ist das nicht. Jahresanfang, das Wort hat diesmal keinen Beiklang von Aufbruch oder Tatendrang, und mit Zeitenwende assoziieren wir nicht Umbruch oder Neue Welt, sondern ein ganzes Bündel von Bedrohungen: Der Krieg wird noch dauern, der Endkampf der Imperien um Rohstoff und Einflusssphären ist erst am Anfang. Die Wirtschaftsweisen stimmen uns auf Inflation und Rezession ein. Die Zweifel an der parlamentarischen Demokratie wachsen. Die Armut im Süden lässt nicht nach und damit die Migration. Autoritäre Machthaber haben Konjunktur. Ich kenne niemanden, der noch an das Erreichen der Klimaziele glaubt, und die Renten schrumpfen.

Die Zeitenwende ist ein Abschied 

Es wird keine Rückkehr zur Welt vor dem Klimawandel geben. Die große, umfassende Zeitenwende ist kein Anfang, sondern ein Abschied: ein Abschied vom Fortschritt. Bei literarisch gebildeten Geschichtspessimisten hatte dieser Fortschritt allerdings schon lange keine gute Presse mehr. Sie hielten sich, jedenfalls, soweit sie halbwegs gut dotierte kulturkritische Abhandlungen schrieben, an Walter Benjamins "Engel der Geschichte".
Der metaphernverliebte Denker hatte ihn nach dem Ersten Weltkrieg in einer kleinen Zeichnung von Paul Klee entdeckt: ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln, die Augen angstvoll aufgerissen, den Mund zum Entsetzensschrei weit offen. Der Engel blickt zurück in die Geschichte, und wo andere Fortschritt sehen, erblickt er eine Folge von Katastrophen: Trümmer von Kriegen, zerschlagene Städte, zerstörte Menschen – die Kosten der Zivilisation. 
Der Engel möchte verweilen und aufräumen, das Zerbrochene zusammenfügen. Aber vom Sturm der Geschichte wird er unaufhaltsam weitergetrieben in eine Zukunft, die er nicht sehen kann. Denn der Sturm spannt seine Flügel. Er kann sie nicht schließen und anhalten.

Globale Probleme in den Griff kriegen 

Im Nebel der Zeit, die vor uns liegt, werden uns melancholische Bilder von klagenden und trauernden Engeln keine Orientierung geben. Um es auch im Bild zu sagen: Der Engel, den wir brauchen, um die nächsten Jahrzehnte zu bestehen, müsste seine Flügel schließen und sich umdrehen, um nach vorn zu schauen, uns helfen, nüchtern ins Auge zu fassen und nicht immer wieder zu verdrängen, worauf wir zusteuern, wenn wir den Kapitalismus, die Müllproduktion und die Ungleichheit nicht in den Griff bekommen. 
Wir können nicht genau sagen, wie eine Zivilisation ohne Wachstum und CO2 aussehen wird, welche neuen Industrien entstehen werden und welche schrumpfen, was die Menschen tun werden, wenn die Arbeit von Robotern gemacht wird. Aber eines wissen wir: Ob es um Klima geht, um Frieden, um die Ernährung von zehn Milliarden – es sind Probleme, die nur die Menschheit als Ganze lösen kann.

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Wir stehen nicht mehr mit dem Rücken zu einer unbekannten und offenen Zukunft wie der Benjaminsche Engel, sondern wir können die Absturzkanten sehen und die Bremswege ausrechnen – und wenn wir einen Engel der Geschichte brauchen, dann einen, der uns Bodenhaftung lehrt, Einsicht in die Notwendigkeiten und die Lust oder doch wenigstens die Kraft, eine Zeit zu bestehen, in der es weniger um Selbstverwirklichung der Einzelnen gehen wird, und mehr um das, was zu tun ist, um die Selbsterhaltung aller zu sichern.
Anders gesagt: einen Lotsen beim Navigieren in den turbulenten Gewässern der Übergangszeit. Denn in diesen Wirbeln kommt es darauf an, das Ufer der neuen Zeit – nennen wir sie mal solare Weltgesellschaft – fest in den Blick zu nehmen und mit jedem Zug ein wenig in diese Richtung zu schwimmen. Damit wir nicht an die Ränder der untergehenden Epoche gespült werden. Oder untergehen.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für „Die Zeit“, die taz und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: „Montaigne – Leben in Zwischenzeiten“ und das Theaterstück „Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?“.

Ein Mann mit grauen Haaren sitzt auf einer Bühne.
© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
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