Walter Boehlich: "Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen." Briefe 1944 bis 2000
Herausgegeben von Christoph Kapp und Wolfgang Schopf
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2021
540 Seiten, 50 Euro
Der Lektor als kulturelle Institution
07:45 Minuten
Der einflussreiche Lektor und Publizist Walter Boehlich war ein begnadeter Briefschreiber. Die jetzt veröffentlichte Auswahl aus seiner Korrespondenz bietet einen faszinierenden Einblick in ein halbes Jahrhundert Geschichte der BRD.
"Durch Gespräch am 4.4. erledigt", notierte Siegfried Unseld auf einem Brief vom 2. April 1964. Walter Boehlich hatte dem Verlagsleiter des Suhrkamp Verlages geschrieben und den Vorwurf zurückgewiesen, er würde zu wenig arbeiten. Des Weiteren kritisierte der 1921 geborene Boehlich in dem Schreiben – noch auf Betreiben von Peter Suhrkamp war er seit 1957 als Lektor im Verlag beschäftigt – Unselds Absicht, den Verlag neu ausrichten zu wollen: "Mir genügt die bestehende Literatur, ich bedarf nicht ihrer Aufarbeitung, nicht des Wiederkäuens".
Erledigt, wie Unseld glaubte, war die Angelegenheit allerdings durchaus nicht, denn 1968 kam es unter Beteiligung von Boehlich zum sogenannten "Lektorenaufstand" im Hause Suhrkamp, der schließlich zur Kündigung Boehlichs führte.
Ein bemerkenswerter Briefschreiber
Dass Boehlich in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit als kluger Lektor, engagierter Kritiker, kenntnisreicher Übersetzer und wortmächtiger Publizist eine Institution war, daran erinnert nun ein aufwendig gestalteter Briefband. Boehlich war ein bemerkenswerter Briefschreiber, besonders seine an die Suhrkamp-Autoren adressierten Briefe – unter anderem an Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Wolfgang Koeppen – sind stilistisch vom Feinsten.
Nachvollziehen lässt sich anhand der Briefe aber auch Boehlichs politische Entwicklung. Anfangs liberal gesinnt, orientierte er sich angesichts restaurativer Tendenzen in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit zunehmend weiter links. Während er sich 1960 in einem Brief an Hugo Huppert noch darüber mokierte, dass dieser für politische Verhältnisse einer "Volksdemokratie" eintrete, unter denen sich Boehlich nicht "wohlfühlen" würde, sprach er sich im September-Brief von 1969 an Dieter E. Zimmer für gesellschaftliche Veränderungen aus, die, wenn notwendig, auch mit Gewalt herzustellen seien: "Das radikal veränderte wird ein sozialistisches System sein."
Einblick in die gesellschaftliche Entwicklung der BRD
Dass er solche Veränderungen für notwendig hielt, war unter anderem dem Zustand an den westdeutschen Universitäten geschuldet, an denen weiterhin zahlreiche Professoren unterrichteten, die sich während der NS-Zeit Hitler angedient hatten. Die Entschuldigung, sie hätten nur das "damals Übliche" getan, ließ ihnen Boehlich nicht durchgehen.
Wiederholt mahnte er an, dass an den Universitäten nicht erforscht werde, was zwischen 1933 und 1945 universitärer Alltag war – die Ausgrenzung und Verfolgung von demokratischen und jüdischen Gelehrten. Insofern vermitteln Boehlichs Briefe auch einen Einblick in die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik.
Die Briefe müssen für sich sprechen
Die Herausgeber Christoph Kapp und Wolfgang Schopf verzichten auf ein Vor- bzw. Nachwort und vertrauen stattdessen sowohl der Wirkmächtigkeit von Boehlichs Briefen als auch dem Informationsgehalt ihrer Anmerkungen. Wer allerdings mit Boehlichs Vita wenig vertraut ist, der ist angesichts dieser Entscheidung darauf angewiesen, sich Biografisches aus der knapp bemessenen Zeittafel oder den Fußnoten zu erschließen.
Der leinengebundene und mit Lesebändchen versehene Band, eine Prachtausgabe, enthält zahlreiche Fotos, Faksimiles und auch Buchcoverabbildungen. Dass diese Cover von Boehlich-Titeln im Buch mit der Streubüchse verteilt wurden, hätte der penible Lektor Boehlich den Herausgebern gewiss nicht durchgehen lassen.