Walter Heesen über interkulturelle Konflikte

"Indien ist anders"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird am 04.10.2015 auf dem militärischen Teil des Flughafens Indira-Gandhi-International in Neu Delhi vom indischen Staatsminister für Finanzen Jayant Sinha begrüßt. Hier nimmt die Kanzlerin an den dritten deutsch-indischen Regierungskonsultationen teil. Bei dem Treffen mit der national-hinduistischen Regierung von Premierminister Modi geht es schwerpunktmäßig um Klima-, Wirtschafts- und Bildungspolitik.
Bundeskanzlerin Angela Merkel wird auf dem Flughafen Indira-Gandhi-International in Neu Delhi vom indischen Staatsminister für Finanzen, Jayant Sinha, begrüßt © dpa / picture-alliance / Kay Nietfeld
Moderation: Korbinian Frenzel |
Bundeskanzlerin Angela Merkel weilt gerade in Indien, der guten Beziehungen wegen, besonders auf der wirtschaftlichen Ebene. Wer im Hoffnungsland der deutschen Exportwirtschaft gute Geschäfte machen will, sollte unbedingt die indische Kultur und Eigenheiten beachten, empfiehlt der Unternehmensberater Walter Hessen.
Angela Merkel nimmt gerade eine Auszeit von der Flüchtlingskrise und ist nach Indien gereist. Dort wurde sie mit militärischen Ehren begrüßt. Sowohl Indiens Präsident Pranab Mukherjee als auch Premierminister Narendra Modi standen bereit, um die Kanzlerin in der Hauptstadt Neu Delhi zu empfangen. Zu den indisch-deutschen Regierungskonsultationen hat Merkel gleich vier Minister mitgebracht: Bei den Gesprächen soll es vor allem um Klima-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik gehen.
Der Unternehmensberater Walter Heesen kennt das Land seit rund drei Jahrzehnten und war Präsident der deutsch-indischen Handelskammer. Wer in Indien wirtschaftlich punkten will, muss seiner Ansicht nach vor allem die Bedeutung von Religion und Familie in dem Land kennen. "Indien ist anders", sagte er im Deutschlandradio Kultur. Die indische Gesellschaft wandelt sich laut Heesen, doch gehe es hier um "graduelle" Veränderungen, und nicht um eine Kulturrevolution. Noch immer würden rund 85 Prozent der Ehen arrangiert. Selbst Inder, die beispielsweise im Westen studiert hätten, dort sozialisiert seien und nach außen wie "Weltmenschen" aufträten, sind den Traditionen verhaftet: "Innerlich bleiben sie Inder", sagte Heesen.

Das Gespräch im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Wenn Politiker durch die Welt reisen, haben sie ganze Protokollabteilungen, die dafür sorgen, dass sie an der richtigen Stelle die richtige Verbeugung machen. Andere Länder, andere Kulturen haben andere Codes. Das werden eine Angela Merkel und ein Sigmar Gabriel wissen und beherzigen, wenn sie wie derzeit gerade in Indien zu Gast sind, ein Staatsbesuch der Kanzlerin und des Wirtschaftsministers und vieler mehr, der politisch, der vor allem aber auch wirtschaftlich interessant ist.
Indien löst China gerade als neues Hoffnungsland der deutschen Exportwirtschaft ab, ein Land, das riesig ist, das riesige Chancen bietet, aber sicherlich auch so manche Fallstricke kennt für jemanden, der sich nicht auskennt auf dem Subkontinent. Jemand, der sich auskennt, ist jetzt unser Gesprächsgast: Werner Heesen. Er war Präsident der Deutsch-Indischen Handelskammer, Direktor der Lufthansa in Südostasien, und heute berät er Firmen, die ihren Fuß nach Indien setzen möchten. Werner Heesen, guten Morgen!
Werner Heesen: Guten Morgen!
Frenzel: Was ist das Erste, was man falsch machen kann in Indien?
Heesen: Ja, man muss sich erst mal vorstellen, dass Indien anders ist, und das vergessen viele. Indien ist nicht ein anderes Europa, sondern Indien ist eine völlig eigene Kultur, die ganz anders ausgeprägt ist. Also, das heißt, ein Kulturkreis mit anderen Verhaltensweisen der Menschen, mit anderen Einstellungen und auch letztlich mit anderen Bedürfnissen.
Frenzel: Das mit diesem anderen Europa kommt wahrscheinlich auch daher, dass das Land ja lange britische Kolonie war, viele sprechen dort Englisch. Es ist ja außerdem auch, anders als China, im Grunde demokratisch. Das klingt doch alles erst mal angenehm vertraut.
In Indien wird das Leben von der Religion und der eigenen Familie bestimmt
Heesen: Das klingt angenehm vertraut, aber Indien ist eben auch manchmal auf den zweiten Blick unterschiedlich. Zwei ganz herausragende Elemente, die auch das indische Leben prägen und an denen sich die Unterschiede feststellen lassen, das ist einmal die Religion und einmal die Familie.
Frenzel: Fangen Sie mal an mit der Religion, was muss man denn da bedenken, jetzt gerade mal aus einer Wirtschaftsperspektive, wenn man mit seinem Unternehmen nach Indien kommt?
Heesen: Also, die Religion ist allgegenwärtig. Man glaubt es kaum wie stark die Einflüsse zwischen Religion und wirtschaftlichen Bezügen sind. Also, ein Beispiel ist zum Beispiel Religion und der Einfluss auf alle Marketingaktivitäten. Das heißt, Religion hat Einfluss auf die Produktplanung. Das mag jetzt manchen erstaunen ...
Frenzel: Ja, das müssen Sie erklären!
Heesen: Denken Sie mal an die Lebensmittelindustrie, an religiöse Ess- und Trinkvorschriften. Also, selbst Weltfirmen wie McDonald's, die als Kernprodukt den Hamburger haben, die mussten sich in Indien die Frage stellen, können wir da überhaupt produzieren, wenn Hindus kein Rindfleisch essen.
Frenzel: Und was war die Lösung?
Heesen: Die Lösung war, dass McDonald's ein anderes Flaggschiff genommen hat, statt dem Big Mac gibt es den Maharaja-Burger, das ist ein Hühnchenfleisch-Burger, der ganz den indischen Verhältnissen angepasst ist.
Oder auch die Gastronomie, Fluggesellschaften beispielsweise müssen ihre Menüplanung umstellen. Sie müssen sich auf der einen Seite darauf einstellen, dass Hindus eben besonderes Essen bevorzugen, aber auch was alkoholische Getränke in Indien anbetrifft, sind die Unterschiede groß, Frauen zum Beispiel trinken sehr wenig Alkohol in der Regel. Also geht es darum, auch alkoholfreie Produkte in einer bestimmten Zusammenstellung und Ausprägung anzubieten im Cateringbereich.
Dann aber auch, was die Industrie anbetrifft, in der Kommunikation. Sie können zum Beispiel bei Werbetexten oder bei Bildern nicht die gleichen Sujets oder die gleichen Bilder, Fotografien nehmen, weil beispielsweise das Thema Sexualität, das Thema Darstellung der Frau, das Thema Kleidung dabei eine große Rolle spielen.
Frenzel: Da sind wir ja fast schon bei dem zweiten Punkt, den Sie genannt haben, Familie. Was ist denn da der große Unterschied?
Noch immer werden rund 85 Prozent der Ehen in Indien arrangiert
Heesen: Der große Unterschied ist die sehr, sehr starke Verbindung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern untereinander. Es ist immer sehr auffällig, dass es also auch für Deutschland-Besucher, die in eine indische Familie reinkommen, dass es zum Beispiel ganz klar geregelte Hierarchien gibt, die auch gar nicht infrage gestellt werden.
Der Vater hat eine besondere Rolle, die Großeltern haben eine besondere Rolle, die Familie bestimmt auch das Leben des Einzelnen in Indien, des einzelnen Menschen. Was für uns zum Beispiel unvorstellbar ist, wie stark der Einfluss der Familie auf die Berufswahl ist, auf die Auswahl des Studiums, und letztlich noch ganz erstaunlich für viele hier im Westen, in der westlichen Welt ist auch der Einfluss auf die Partnerwahl. Also, heute ist konservativ geschätzt es immer noch so, dass 85 Prozent der Ehen durch die Eltern vorbereitet werden, arrangiert werden. Ich möchte da abgrenzen zwischen Zwangsheirat und arrangierter Ehe, das werden die Inder auch sicherlich ganz genauso darstellen wollen. Aber das sind zum Beispiel drei Punkte, die sehr auffällig sind.
Frenzel: Jetzt würde ich mit meiner oberflächlichen europäischen Brille sagen, das sind alles so, ja, vormoderne Erscheinungen. Ist das denn in einer Mittelschicht, die in Indien ja auch wächst, anders, ist die da schon europäischer?
Heesen: Das ist eine berechtigte Frage. Natürlich wandelt sich die indische Gesellschaft auch. Also, ich kenne die indische Gesellschaft jetzt aus persönlicher Erfahrung über 30 Jahre und da gibt es auch einen Wandel. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass das jetzt sozusagen eine indische Kulturrevolution ist, bei der beispielsweise solche Dinge wie arrangierte Hochzeiten plötzlich nicht mehr stattfinden.
Es sind graduelle Veränderungen. Ich würde sagen, vor 30 Jahren waren es noch 98 Prozent der Ehen, die arrangiert worden sind, und heute sind es vielleicht, sind es diese 85 Prozent. Aber es sind immer noch viel, viel mehr als drei Viertel und das ist eigentlich der Punkt.
Indien ändert sich auch im Sozialverhalten, aber es ist eben ein ganz, ganz langsamer Schritt. Und wir müssen uns davor hüten zu sagen, wenn wir moderne Inder treffen, die in Deutschland oder ... häufig zu tun haben oder in USA und England studiert haben, das sind Weltmenschen, die viel näher jetzt an unserer Kultur sind, als wir uns das vorstellen können. Das ist eben nicht so. Im Geschäftsleben vielleicht äußerlich ja, innerlich bleiben sie Inder. Und bestimmte Verbindungen oder bestimmte Verhaltensweisen, ich sagte Religion oder ich sagte Familie, die sind eben nicht anders.
Frenzel: Herr Heesen, mal andersherum gefragt, die Perspektive gewechselt: Was denken denn die Inder über uns, über uns Deutsche, worüber wundern die sich?
Die Inder mögen Deutschland - empfinden die Deutschen aber als zu direkt
Heesen: Ja, genauso wie wir uns über Inder wundern, weil sie anders sind, ist es bei den Indern natürlich genauso. Grundsätzlich ist es so – und das sollten wir erst mal positiv zur Kenntnis nehmen – die Inder haben eine sehr positive Einstellung zu Deutschland. Also, positive Attribute überwiegen. Es hat in der Geschichte Indiens zum Beispiel nie Konflikte gegeben zwischen Deutschland und Indien, es hat keine Kriege gegeben, Deutschland hat ... Indien war eines der ersten Länder, die nach dem Kriege diplomatische Beziehungen zu Deutschland aufgenommen haben.
Das ist zum Beispiel das Grundsätzliche, was auffällig ist. Aber zu Ihrer Frage zurück, es gibt natürlich auch negative Wahrnehmungen. Also, Inder sind sehr sensibel, sehr emotional, sie stellen sehr schnell fest, ob man Indien mag oder nicht mag, wie man sich äußert.
Das sind Sekundenbruchteile, in denen sich da zum Beispiel ein Urteil auf der indischen Seite, beim indischen Partner gebildet wird. Und das hat was mit mangelndem Einfühlungsvermögen auf der deutschen Seite zu tun, dass wir in manchen Dingen zu direkt sind, zu wenig rücksichtsvoll und zu wenig sensibel. Das ist eine Sache.
Die andere Sache ist: Vielen kommt Indien, wenn man zum ersten Mal hinkommt, besonders chaotisch vor. Also, das ist das Straßenbild, das ist das Leben rundherum, das quirlt, das ist laut und farbenfroh Tag und Nacht. Aber daraus bildet sich bei den Indern natürlich auch eine gewisse Flexibilität, sich auf ständig wechselnde Bilder und Situationen einzustellen. Und das ist etwas, was man uns wieder vorwirft, also, wir wären nicht flexibel genug in einer Situation oder wir wären manchmal stur, weil wir glauben, dass wir unsere Meinung in Indien so durchsetzen können, wie wir sie kennen und wie wir sie für richtig halten.
Aber auch Krisenmanagement zum Beispiel ist bei Indern ganz, ganz anders ausgeprägt, viel spontaner und auf der Stelle, wobei wir immer versuchen – was nicht grundsätzlich falsch ist – sehr systematisch und sehr durchdacht an bestimmte Dinge heranzugehen.
Und ein Aspekt, der in diesem ganzen Zusammenhang auch immer eine Rolle spielt, bei Deutschen besonders, ist das Zeitverständnis, dass wir also aus einer Welt kommen, wo es Züge gibt, die fahren um 12:01 Uhr ab, und das steht nicht nur auf dem Fahrplan, die kommen auch um 12:01 Uhr, meistens. Also, für Inder hat die Bahn immer noch ein ganz hervorragendes Image. Und in Indien sind die Spannen zwischen Fahrplan und aktuellem Erscheinen des Zuges doch bedeutend größer.
Frenzel: Werner Heesen, ich muss jetzt hier auf unseren Fahrplan gucken, 6:57 Uhr ist es nämlich. Ich hätte gerne weiter mit Ihnen gesprochen, hier kommen jetzt aber gleich die Nachrichten. Werner Heesen über Indien, herzlichen Dank für das Gespräch!
Heesen: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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