Walter Mischel: "Der Marshmallow Test. Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit"
Siedler Verlag, München 2015, 400 Seiten, 24,99 Euro
Die Schwierigkeiten des Abkühlens
Walter Mischels macht uns Mut: Zwar ist jeder in seinem Verhalten bereits sehr früh im Kindesalter geprägt. Aber wir können Einfluss nehmen und lernen, Versuchungen zu widerstehen, erklärt er in seinem neuen Buch.
Ein Kind bekommt einen Marshmallow gezeigt. Der Forscher sagt: "Du kannst ihn essen, aber wenn Du wartest, bekommst Du einen zweiten dazu." Der Psychologe Walter Mischel hat sich den Marshmallow-Test in den 1960er Jahren ausgedacht und einen Klassiker geschaffen. In seinem gleichnamigen Buch erzählt er nun, wie sich an diesem scheinbar simplen Experiment immer noch überraschend viel lernen lässt, denn es gibt Kinder, die den ersten Marshmallow sofort verputzten, während andere sich auf ihre Hände setzen, sich mit Geschichten ablenken oder einfach mit Willensstärke der Versuchung wiederstehen, um nach 20 Minuten einen zweiten Marshmallow zu erhalten.
Walter Mischel hat diese Kinder über Jahrzehnte begleitet und festgestellt, wer schon in jungen Jahren auf den zweiten Mashmallow warten konnte, der verdient später mehr, lebt gesünder und ist glücklicher in seinen Beziehungen. Aber ist das wirklich so einfach? Kann der Marshmallow-Test zeigen, was die Zukunft bringt? - Nein, sagt Mischel. Und genau deshalb ist sein Buch so wichtig.
"Heiß" und "Kalt" als System
Die fatalistische Interpretation, dass mit vier Jahren im Grunde die eigene Zukunft festgelegt sei, stimme so nicht, denn wie Walter Mischel zeigt, kann man die Strategien der geduldigen Kinder erlernen. Im Grunde komme es immer darauf an, die richtige Balance zwischen zwei geistigen Systemen zu finden, die der Psychologe "heiß" und "kalt" nennt.
Das "heiße" System reagiert schnell auf die sinnlichen Aspekte der Marshmallows, und ruft zum Reinbeißen auf. Das "kühle" System wägt ab und erkennt, dass es sich lohnt zu warten. Die Kinder, die sich den Marshmallow als Bild vorstellen, also als etwas abstraktes, aktiveren ihr kühles System und widerstehen der Versuchung.
Ähnliche Strategien funktionieren auch bei Erwachsenen. Walter Mischel selbst hat sich das Rauchen abgewöhnt, indem er an einer Dose alter Kippen roch, sobald ihn das Verlangen überkam. Der schale Nikotingeruch dämpfte erfolgreich sein heißes System. Aber der Psychologe weiß auch, dass das "kühle" Herangehen allein nicht reicht. Wenn Studenten über ihre Altersvorsorge nachdenken, dann entscheiden sie vernünftiger, wenn sie sich ihr Rentnerdasein möglichst plastisch vorstellen, statt nur abstrakt darüber nachzudenken. Das Grundprinzip lautet: "Das 'Jetzt' abkühlen, das 'Später' erhitzen."
Aufklärung über das Krümelmonster
Mischels Buch, das voller Anekdoten und Studien steckt, vermittelt viele überraschende Einsichten über "Willensstärke, Belohnungssaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit". Der Psychologe erklärt, warum Bill Clinton oder Tiger Woods im Umgang mit ihren Sex-Affären dem heißen System folgten, er macht deutlich, wie das Krümelmonster aus der Sesamstraße Willensstärke lehrt und er gibt der Politik Ratschläge, wie Schule besser gelingen kann.
Am Ende deutet Walter Mischel noch Decartes Motto um: "Ich denke, daher kann ich verändern, was ich bin." Wegen seiner fundierten, lebenspraktischen und komplexen Sicht auf die menschliche Psyche setzt sich dieses Buch weit ab von vielen anderen aktuellen Psychologie- Sachbüchern. Eine echte Empfehlung.