Walter Ulbricht als treibende Kraft
Die amerikanische Historikerin Hope M. Harrison liefert mit "Ulbrichts Mauer" die wichtigsten Hintergründe des Mauerbaus in Berlin. Und die Erkenntnis, dass Walter Ulbricht den "Schutzwall" unbedingt wollte und den Sowjets fast aufgedrängt hat.
Nicht Ulbricht, sondern Chruschtschow sei's gewesen: Das behauptet standhaft Honeckers letzter Verteidigungsminister, Heinz Kessler. Chruschtschow sei verantwortlich für jenes Bauwerk, das die "billigste Lösung" gewesen sei, um den gefährlich zugespitzten Ost-West-Konflikt Anfang der 60er-Jahre einzudämmen. Diese Sicht entspricht ungefähr der herrschenden Lehre der westdeutschen Geschichtswissenschaft zu Zeiten des Kalten Krieges. Die Supermacht Sowjetunion kujonierte den kleinen Satelliten auf deutschem Boden. Die SED-Machthaber hatten zu tun, was der "große Bruder" befahl. Ihr politischer Spielraum tendierte gegen Null.
Die US-amerikanische Historikerin Hope M. Harrison bezweifelt das. Schon 2003 erschien ihr Buch in den USA unter dem flotten Titel "Driving the Soviets up the wall". Nun ist es – endlich – auch auf Deutsch erschienen. Harrison nutzte sehr früh die Gelegenheit, nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 in den zuvor verschlossenen Moskauer Archiven den Entscheidungsprozess zu studieren, der schließlich zum Mauerbau führte. Ihr Fazit: Nikita Chruschtschow hat den Bau der Mauer zwar befohlen, weil er darauf bestand - bestehen musste, dass die Supermacht entscheidet, was passiert. Doch Chruschtschow hatte nicht die Absicht gehabt, eine Mauer zu bauen – er kam vielmehr dem Drängen Walter Ulbrichts nach, der seit 1952/53 beharrlich das Ziel einer Grenzschließung verfolgte, um ungestört den Aufbau des Sozialismus vorantreiben zu können.
Harrisons Rekonstruktion der Mauerbau-Vorgeschichte beginnt 1953, im Jahr des Volksaufstandes in der DDR. Stalin war tot, Chruschtschow setzte sich Zug um Zug im Machtkampf mit seinen Rivalen durch. Mitte der 50er-Jahre bemühte er sich zunächst um einen Abbau der Spannungen mit dem Westen, im Gegensatz zu Ulbricht. Der hielt – trotz 17. Juni 1953 und Massenflucht - stur, aber mit hohem politischem Geschick am Ziel einer kompromisslosen Sowjetisierung der DDR fest. Vergeblich forderte Chruschtschow von Ulbricht eine Kursänderung, damit die Menschen nicht mehr aus der DDR fliehen würden.
Harrison beschreibt, wie es Ulbricht mit erstaunlicher Chuzpe gelang, seine harte Linie dem mächtigsten Mann des Ostblocks aufzuzwingen. Ihm kam entgegen, dass Chruschtschow kein Abkommen mit dem Westen gelang und der Ungarn-Aufstand 1956 die östliche Supermacht in Bedrängnis brachte. Beides war Wasser auf die Mühlen der Hardliner. Vor allem aber nutzte Ulbricht die Schwäche der DDR gegen Chruschtschow aus: Je stärker die Krise der DDR-Wirtschaft, je stärker der Flüchtlingsstrom Richtung Westen, desto stärker wurde Ulbrichts Druck auf Chruschtschow, das Berlin-Problem zu lösen.
In der entscheidenden Phase, die zum Mauerbau führte, während der Berlin-Krise ab 1958, zettelte Chruschtschow einen globalen Machtkampf an: Er wollte einen Abzug der Westmächte aus Berlin erzwingen, um die Kräfteverhältnisse zwischen den Supermächten zu seinen Gunsten zu verschieben. Ulbricht hingegen wollte seinen Herrschaftsbereich abdichten und forderte - mit einer Chruschtschow enervierenden Penetranz - Grenzschließung und Wirtschaftshilfe für die DDR. Ulbricht setzte sich durch, weil Chruschtschows globale Strategie an Kennedys Unnachgiebigkeit scheiterte und sich die Sowjetunion im Sommer 1961 einer Maßnahme zur Beendigung der Massenflucht nicht mehr verweigern konnte.
Harrison beschreibt Ulbricht als treibende Kraft: Er war es, der den Mauerbau durchsetzte – und am Ende doch einen Machtkampf verlor. Denn sein großes Ziel, die Kontrolle über die Transitwege nach West-Berlin, konnte er nach dem 13. August 1961 nicht mehr erreichen.
Hope M. Harrison hat zwar noch nicht alle Akten, die heute einsehbar sind, studieren können. Dennoch ist es ihr gelungen, die nach heutigem Kenntnisstand wichtigsten Hintergründe des Mauerbaus zu erfassen und darzustellen. Ein überaus lesenswertes Buch!
Besprochen von Winfried Sträter
Hope M. Harrison: Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach
Aus dem Amerikanischen von K.-D. Schmidt
Propyläen Verlag, Berlin 2011
512 Seiten, 24,99 Euro
Die US-amerikanische Historikerin Hope M. Harrison bezweifelt das. Schon 2003 erschien ihr Buch in den USA unter dem flotten Titel "Driving the Soviets up the wall". Nun ist es – endlich – auch auf Deutsch erschienen. Harrison nutzte sehr früh die Gelegenheit, nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 in den zuvor verschlossenen Moskauer Archiven den Entscheidungsprozess zu studieren, der schließlich zum Mauerbau führte. Ihr Fazit: Nikita Chruschtschow hat den Bau der Mauer zwar befohlen, weil er darauf bestand - bestehen musste, dass die Supermacht entscheidet, was passiert. Doch Chruschtschow hatte nicht die Absicht gehabt, eine Mauer zu bauen – er kam vielmehr dem Drängen Walter Ulbrichts nach, der seit 1952/53 beharrlich das Ziel einer Grenzschließung verfolgte, um ungestört den Aufbau des Sozialismus vorantreiben zu können.
Harrisons Rekonstruktion der Mauerbau-Vorgeschichte beginnt 1953, im Jahr des Volksaufstandes in der DDR. Stalin war tot, Chruschtschow setzte sich Zug um Zug im Machtkampf mit seinen Rivalen durch. Mitte der 50er-Jahre bemühte er sich zunächst um einen Abbau der Spannungen mit dem Westen, im Gegensatz zu Ulbricht. Der hielt – trotz 17. Juni 1953 und Massenflucht - stur, aber mit hohem politischem Geschick am Ziel einer kompromisslosen Sowjetisierung der DDR fest. Vergeblich forderte Chruschtschow von Ulbricht eine Kursänderung, damit die Menschen nicht mehr aus der DDR fliehen würden.
Harrison beschreibt, wie es Ulbricht mit erstaunlicher Chuzpe gelang, seine harte Linie dem mächtigsten Mann des Ostblocks aufzuzwingen. Ihm kam entgegen, dass Chruschtschow kein Abkommen mit dem Westen gelang und der Ungarn-Aufstand 1956 die östliche Supermacht in Bedrängnis brachte. Beides war Wasser auf die Mühlen der Hardliner. Vor allem aber nutzte Ulbricht die Schwäche der DDR gegen Chruschtschow aus: Je stärker die Krise der DDR-Wirtschaft, je stärker der Flüchtlingsstrom Richtung Westen, desto stärker wurde Ulbrichts Druck auf Chruschtschow, das Berlin-Problem zu lösen.
In der entscheidenden Phase, die zum Mauerbau führte, während der Berlin-Krise ab 1958, zettelte Chruschtschow einen globalen Machtkampf an: Er wollte einen Abzug der Westmächte aus Berlin erzwingen, um die Kräfteverhältnisse zwischen den Supermächten zu seinen Gunsten zu verschieben. Ulbricht hingegen wollte seinen Herrschaftsbereich abdichten und forderte - mit einer Chruschtschow enervierenden Penetranz - Grenzschließung und Wirtschaftshilfe für die DDR. Ulbricht setzte sich durch, weil Chruschtschows globale Strategie an Kennedys Unnachgiebigkeit scheiterte und sich die Sowjetunion im Sommer 1961 einer Maßnahme zur Beendigung der Massenflucht nicht mehr verweigern konnte.
Harrison beschreibt Ulbricht als treibende Kraft: Er war es, der den Mauerbau durchsetzte – und am Ende doch einen Machtkampf verlor. Denn sein großes Ziel, die Kontrolle über die Transitwege nach West-Berlin, konnte er nach dem 13. August 1961 nicht mehr erreichen.
Hope M. Harrison hat zwar noch nicht alle Akten, die heute einsehbar sind, studieren können. Dennoch ist es ihr gelungen, die nach heutigem Kenntnisstand wichtigsten Hintergründe des Mauerbaus zu erfassen und darzustellen. Ein überaus lesenswertes Buch!
Besprochen von Winfried Sträter
Hope M. Harrison: Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach
Aus dem Amerikanischen von K.-D. Schmidt
Propyläen Verlag, Berlin 2011
512 Seiten, 24,99 Euro