Auf Schusters Rappen durchs Corona-Berlin
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Bewegungsmangel und Ansteckungsgefahr sind zwei Problem in der Pandemie. Die Lösung: Alle Wege zu Fuß erledigen. Hans Ruoff macht das so. Der 69-Jährige schwärmt, er entdecke sein Berlin ganz neu.
Trekkinghose, Softshelljacke, Sonnenbrille – alles farblich aufeinander abgestimmt: grau, schwarz – und neu. Nur die Schuhe sind bereits 30 Jahr alt und das Heiligtum von Hans Ruoff. Er bekam sie einst von einem Freund geschenkt. Irgendwann brach die Sohle. Der Freund habe gesagt "Schmeiß sie doch weg".
"Dann habe ich gesagt: 'Nein, das sind tolle Schuhe, so was wirft man nicht weg'", sagt Ruoff. "Dann habe ich herausgefunden: Diese namhaften Hersteller von Wander- und Bergschuhen, die besohlen die komplett neu. Die lösen es ab, vulkanisieren eine neue Sohle dran. Die gehen sich super."
Gehen macht süchtig
Vor Kurzem ließ er die Wanderschuhe ein zweites Mal besohlen. Denn Hans Ruoff geht nur noch zu Fuß. Die Ansteckungsgefahr in Zeiten der Pandemie ist ihm zu groß geworden. "Ich gehe mit Ihnen jetzt etwas langsamer. Normalerweise gehe ich etwas schneller. Aber dann kann ich nicht reden, dann komme ich außer Atem."
Ob in den Bücherladen oder ins Bürgeramt: Er geht immer zu Fuß. Für die 20 Kilometer von sich zu Hause in Berlin Prenzlauer Berg zu seiner Freundin in Berlin Zehlendorf braucht der 69-Jährige knapp drei Stunden.
Mindestens einmal die Woche geht er die Strecke, hin und zurück. "Was ich spüre, ist, dass ich sehr viel länger in hohem Tempo gehen kann als am Anfang."
Und er hat festgestellt: Gehen kann süchtig machen. "Von Marathonläufern kennt man dieses Runners High, ich bin überzeugt, dass es beim Gehen etwas Vergleichbares gibt", schildert Ruoff. "Es kommt so ein Moment, wo ich das Gefühl habe: Ich komme in so einen Fluss rein und es läuft von selbst. Dann ist es so, dass ich den Eindruck habe, es könnte jetzt noch zwei, drei Stunden weitergehen."
Ohne Touristen
Gehen, sagt er, halte aber nicht nur fit. Es schärfe auch die Sinne. Hans Ruoff erlebt Berlin immer wieder neu und anders. Sieht Belangloses, wie beispielsweise die kleine Tischlampe, die auf dem Fensterbrett eines ehemaligen DDR-Ministeriums umgefallen ist und dort möglicherweise schon seit Jahrzehnten liegt.
Er stößt aber auch auf Bedeutendes: Mahnmale und Gedenktafeln, die an die geteilte Stadt erinnern und die auch ihn noch überraschen können. "Wenn ich durch die Zimmerstraße gehe, ist das Mahnmal für Peter Fechter, den Namen kennt in meiner Generation jeder. Der junge Mann, der 1962 aus einer Laune heraus mit einem Freund über die Mauer gehen wollte, wurde angeschossen und lag im Todesstreifen, bis er gestorben ist. Niemand konnte ihn retten von westlicher Seite, da gehe ich vorbei, ich sehe aber ein paar Schritte daneben eine Gedenktafel für einen DDR-Grenzer, der von einem westdeutschen Fluchthelfer erschossen wurde, von dem hatte ich vorher noch nie etwas gehört."
Schicksal Ost, Schicksal West, auf 200 Metern vereint.
"Der ist dann tatsächlich wegen Mordes verurteilt worden. Nach dem Mauerfall. Das sind Geschichten, die Sie nur sehen, wenn Sie zu Fuß gehen. Wenn Sie mit dem Auto hier vorbeifahren, halten sie nicht an und steigen aus."
Ein paar Meter weiter ist der Checkpoint Charlie. Wo normalerweise Reisebusse und Menschenmassen die Straßen und Gehwege verstopfen, ist es jetzt ruhig. Ein junger Mann steht mitten auf der Kreuzung und schießt ein Foto.
"Checkpoint Charlie in den Zeiten der Pandemie: Das ist ja ein Ort, wo man als in Berlin lebender Mensch freiwillig nicht mehr hingegangen ist. Es war ein Riesenauflauf und ein Gewurrle, man hat echt den Vogel gekriegt." Jetzt sei es sehr überschaubar, sagt Ruoff. "Berlin ist jetzt wieder ein Stück mehr unseres, sage ich mal, die Leidtragenden sind natürlich diejenigen, die von den Touristen leben: Cafés und Andenkenläden."
Unscheinbare Kunst
Ruoff war früher Journalist, später arbeitete er als Schreibtrainer. Heute betreibt er in seiner Wohnung eine kleine Galerie. Seine Vorliebe gilt sogenannten Readymades, zum Kunstobjekt erklärte Alltagsgegenstände.
Auch die findet er auf seinen Gängen durch die Stadt. "Letzte Woche habe ich in Schöneberg ein quadratisches kleines Teil gefunden, so gestreift, wunderschön. Nach langem Hin und Her habe ich dann rausgefunden: Das ist so ein Solarmodul gewesen. Das auf irgendeinen Gegenstand aufgeklebt war. Hinten waren zwei abgebrochene Drähte und an einer Stelle war ein Pluszeichen. Also so was ist wunderschön."
Das Solarmodul setzte er in einen Glaskasten, auch der ein Mitbringsel von unterwegs.
"Wenn Sie jetzt nicht dabei wären, würde ich jetzt rennen, denn dann kriege ich drüben die Grünphase auch. Das schenken wir uns jetzt. Ich warte ungern lange an roten Ampeln."
Die Straßenbahn fährt vorbei
Rastlos ist er, der Stadtwanderer. Nicht einfach nur ein rüstiger Rentner. Es reizt ihn, sich auszuprobieren, neue Ziele zu Fuß zu erreichen. Wenn es die Infektionslage zulässt, will er Freunde in Brandenburg besuchen. Auch eine Wanderung durch Deutschland steht auf seiner To-do-Liste.
Das Jahresticket der Berliner Verkehrsbetriebe jedenfalls hat Ruoff gekündigt. "Früher ging es immer so: Wenn ich die Straße vorgegangen bin und die Straßenbahn fuhr mir vor der Nase vorbei, sagte ich, jetzt habe ich Straßenbahn verpasst. Dann habe ich mich geärgert. Jetzt fährt die Straßenbahn vorbei und ich denke: 'Da fährt die Straßenbahn, ich brauche sie sowieso nicht'."