Wandernde Stämme
Die Neuerscheinung "Die Völkerwanderung" besticht durch eine erstaunliche Fülle archäologischen Materials und dokumentarischer Befunde. Die Umbruchszeit zwischen Antike und Mittelalter wird umfassend erhellt. Die Bezeichnung "Völkerwanderung" für diese Epoche indes führt in die Irre.
"Schon der Begriff Völkerwanderungszeit weckt falsche Vorstellungen, denn die germanischen Stämme hatten keinesfalls etwas mit dem zu tun, was man sich im 19. Jahrhundert unter einem Volk vorstellte."
So die beiden Herausgeber des Buchs, die Archäologen Matthias Knaut aus Berlin und Dieter Quast vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz. Im fünften und sechsten Jahrhundert identifizierte man sich außerhalb des Römischen Reiches mit seiner Sippe, allenfalls mit seinem Stamm, aber nicht mit einem Volk. Und das Zugehörigkeitsgefühl konnte je nach Opportunität wechseln.
Trotzdem haben die Herausgeber das Buch "Völkerwanderung" genannt, sie greifen das Klischee bewusst auf und konfrontieren es mit der neuesten Forschung. In dem schmalen, ansprechend aufgemachten Band werden einige gängige Ansichten aufgespießt und widerlegt. So präsentieren die Autoren auf 104 großformatigen Seiten eine erstaunliche Fülle archäologischen Materials und dokumentarischer Befunde, die diese angeblich so dunkle Zeit zwischen Antike und Mittelalter in ein facettenreiches Licht tauchen.
In den römischen Quellen hieß alles jenseits des Limes pauschal Germania. Das war im beginnenden 19. Jahrhundert Balsam für die Sehnsucht nach Einheit und Identität stiftender Geschichte im zerrissenen Deutschland. In Wahrheit gab es hinter dem Grenzwall niemanden, der germanisch dachte und germanisch fühlte.
Franken und Alemannen, Sachsen, Thüringer, Burgunder, Vandalen und Goten, so entnimmt man dem Buch, hatten, wenn überhaupt, das Problem, sich ihrer Stammeseigenart zu vergewissern als sich in einer germanischen Zusammengehörigkeitsseligkeit zu aalen.
Einleuchtend argumentieren die Herausgeber, dass denn auch von einer Wanderung von "Völkern" keine Rede sein kann. Sie schlagen aber als Ersatz keinen eigenen Begriff vor, sondern versehen die knapp zwei Jahrhunderte schlicht mit dem Etikett Übergangszeit.
Das ganze Geschiebe und Gewoge im damaligen Europa haben die Hunnen mit ihren Reiterheeren in Gang gesetzt. Warum sie so plötzlich im östlichen Europa aufgetaucht sind, dafür gibt das Buch keine Erklärung. Die Forschung scheint da offenbar immer noch nicht weiter gekommen zu sein. Dafür ist überraschend zu lesen, dass Rom mit den Hunnen wahlweise koalierte und kämpfte, um sie von ihren Grenzen fern zu halten.
Das Römische Reich brach aber nicht allein durch kriegerische Umwälzungen nach dem Hunneneinfall in die Knie. Fränkische, vandalische und gotische Karrieristen waren am Forum Romanum zu Einfluss gelangt und verfolgten ihre eigenen, nicht immer reichskonformen Strategien. Überdies hatten die angeblich so unzivilisierten Anrainer längst römisch-imperiale Mechanismen der Staatsführung und -verwaltung gelernt und setzten sie erfolgreich gegen die Kolonialmacht ein. Sie waren es auch, die später mit der angeeigneten organisatorischen Kompetenz im ehemaligen Reichsgebiet neue Königreiche gründeten.
So widerlegen Knaut und Quast auch das verbreitete Klischee eines Clash of Cultures, wonach das Licht der mediterranen Zivilisation im Getrampel tumber germanischer Horden ausgetreten worden sei.
"Ein Kampf der Zivilisationen war die Völkerwanderungszeit nicht; zu sehr waren einander die Konkurrenten im Kampf um die Macht ähnlich geworden."
Daneben wandern in dem Buch noch viele andere verstaubte Ansichten zur vorgeblichen "Völkerwanderung" in den Papierkorb der Geschichte.
Matthias Knaut und Dieter Quast (Hrsg.): Die Völkerwanderung
Europa zwischen Antike und Mittelalter
Theiss-Verlag, Stuttgart, 2005,
103 Seiten
24,90 Euro
So die beiden Herausgeber des Buchs, die Archäologen Matthias Knaut aus Berlin und Dieter Quast vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz. Im fünften und sechsten Jahrhundert identifizierte man sich außerhalb des Römischen Reiches mit seiner Sippe, allenfalls mit seinem Stamm, aber nicht mit einem Volk. Und das Zugehörigkeitsgefühl konnte je nach Opportunität wechseln.
Trotzdem haben die Herausgeber das Buch "Völkerwanderung" genannt, sie greifen das Klischee bewusst auf und konfrontieren es mit der neuesten Forschung. In dem schmalen, ansprechend aufgemachten Band werden einige gängige Ansichten aufgespießt und widerlegt. So präsentieren die Autoren auf 104 großformatigen Seiten eine erstaunliche Fülle archäologischen Materials und dokumentarischer Befunde, die diese angeblich so dunkle Zeit zwischen Antike und Mittelalter in ein facettenreiches Licht tauchen.
In den römischen Quellen hieß alles jenseits des Limes pauschal Germania. Das war im beginnenden 19. Jahrhundert Balsam für die Sehnsucht nach Einheit und Identität stiftender Geschichte im zerrissenen Deutschland. In Wahrheit gab es hinter dem Grenzwall niemanden, der germanisch dachte und germanisch fühlte.
Franken und Alemannen, Sachsen, Thüringer, Burgunder, Vandalen und Goten, so entnimmt man dem Buch, hatten, wenn überhaupt, das Problem, sich ihrer Stammeseigenart zu vergewissern als sich in einer germanischen Zusammengehörigkeitsseligkeit zu aalen.
Einleuchtend argumentieren die Herausgeber, dass denn auch von einer Wanderung von "Völkern" keine Rede sein kann. Sie schlagen aber als Ersatz keinen eigenen Begriff vor, sondern versehen die knapp zwei Jahrhunderte schlicht mit dem Etikett Übergangszeit.
Das ganze Geschiebe und Gewoge im damaligen Europa haben die Hunnen mit ihren Reiterheeren in Gang gesetzt. Warum sie so plötzlich im östlichen Europa aufgetaucht sind, dafür gibt das Buch keine Erklärung. Die Forschung scheint da offenbar immer noch nicht weiter gekommen zu sein. Dafür ist überraschend zu lesen, dass Rom mit den Hunnen wahlweise koalierte und kämpfte, um sie von ihren Grenzen fern zu halten.
Das Römische Reich brach aber nicht allein durch kriegerische Umwälzungen nach dem Hunneneinfall in die Knie. Fränkische, vandalische und gotische Karrieristen waren am Forum Romanum zu Einfluss gelangt und verfolgten ihre eigenen, nicht immer reichskonformen Strategien. Überdies hatten die angeblich so unzivilisierten Anrainer längst römisch-imperiale Mechanismen der Staatsführung und -verwaltung gelernt und setzten sie erfolgreich gegen die Kolonialmacht ein. Sie waren es auch, die später mit der angeeigneten organisatorischen Kompetenz im ehemaligen Reichsgebiet neue Königreiche gründeten.
So widerlegen Knaut und Quast auch das verbreitete Klischee eines Clash of Cultures, wonach das Licht der mediterranen Zivilisation im Getrampel tumber germanischer Horden ausgetreten worden sei.
"Ein Kampf der Zivilisationen war die Völkerwanderungszeit nicht; zu sehr waren einander die Konkurrenten im Kampf um die Macht ähnlich geworden."
Daneben wandern in dem Buch noch viele andere verstaubte Ansichten zur vorgeblichen "Völkerwanderung" in den Papierkorb der Geschichte.
Matthias Knaut und Dieter Quast (Hrsg.): Die Völkerwanderung
Europa zwischen Antike und Mittelalter
Theiss-Verlag, Stuttgart, 2005,
103 Seiten
24,90 Euro