Wanderungen auf dem Grenzlehrpfad

Von Susanne Arlt |
Die Gedenkstätte Point Alpha befindet sich an der hessisch-thüringischen Grenze zwischen Rasdorf und Geisa. Inmitten vom Biosphärenreservat Rhön erinnert der historische Ort an die Teilung Deutschlands und die Schrecken des Kalten Krieges.
Vier Jahrzehnte standen sich die Vorposten von NATO und Warschauer Pakt hier Auge in Auge gegenüber. 15 Jahre nach der Wiedervereinigung ist von der Grenze kaum noch etwas zu sehen. Doch um Vergangenes nicht zu vergessen führt einmal im Monat ein ehemaliger Bundesgrenzbeamter Touristen entlang des Grenzstreifens zu den einzelnen Stationen der deutsch-deutschen Teilung. Begleitet hat ihn dabei zum ersten Mal ein früherer Major der NVA.

Point Alpha. Im Kalten Krieg ein ausgesprochen heißer Ort. 100 Meter Luftlinie trennen die Mündungen der Gewehre. Der Klassenfeind - mit bloßem Auge sichtbar. In dem US-Camp überwachen amerikanische Soldaten die Grenze zur DDR. Einen Steinwurf entfernt patrouillieren am Stacheldrahtzaun Soldaten der Grenzschutztruppe.

Lehmann: "Diese Grenze war nicht schlechthin Landesgrenze zwischen zwei Bundesländern, sie war auch nicht ne deutsch-deutsche Grenzen, das war die Trennlinie der beiden sich feindlich gegenüberstehenden hochgerüsteten Weltsysteme. Ein falsches Ding an dieser Grenze hätte einen Krieg auslösen können."

500 Meter weiter östlich liegt mitten in einer Schneise die thüringische Stadt Geisa. Sie öffnet sich gen Westen, grenzt an das Fulda-Gap. Fuldaer Lücke, so nennen die US-Amerikaner den schmalen Korridor zwischen der hohen Rhön und dem Vogelsberg. Eine alte Handels- und Heerstraße führt durch die Kleinstadt Richtung Frankfurt am Main. Marschiert der Klassenfeind jemals mit seinen Truppen ein, dann am Point Alpha.

Michel: "Ich bin mit meinen amerikanischen, französischen, englischen Kameraden hier in die Gegend gefahren, um denen zu zeigen, wofür wir eigentlich dienen. Unsere alliierten Kameraden, die hatten die Karte im Kopf. Die kannten fast jeden Namen, der hier eine Rolle spielte. Aber sie hatten keine Vorstellung vom Gelände. Als Fuldaer war uns klar, dass wenn es losgeht, dann ist von Fulda nicht mehr viel übrig."

Der Kalte Krieg ist Vergangenheit, ebenso die deutsch-deutsche Grenze. Touristen besuchen jetzt Point Alpha. Klettern auf den grauen Beobachtungsposten, schauen Richtung Geisa und blicken auf das was eigentlich Geschichte ist: Wachtürme, Streckmetallzäune, Panzersperren. Point Alpha – früher US-Stützpunkt, heute Mahnmal.

Wolfgang Christmann steht breitbeinig auf dem Parkplatz vor dem Eingang der Gedenkstätte. Mit der linken Hand stützt er sich auf einen handgeschnitzten Wanderstock. Seinen rechten Arm schwenkt er durch die Luft, zählt mit dem Zeigefinger die Menschen, die um ihn herum stehen: 12 Frauen, 14 Männer. Die meisten sind über 50. Mit ihnen macht Wolfgang Christmann einen Ausflug in die Geschichte. Wanderungen auf dem Grenzlehrpfad nennt der ehemalige BGS-Beamte den viereinhalbstündigen Marsch, der fast sechs Kilometer an der früheren innerdeutschen Grenze entlang läuft.

Die erste Etappe fahren die Wanderer mit dem Auto. Zu Fuß ist es von Point Alpha aus zu weit, sagt Christmann. Wenigentaft, ein 450-Einwohner-Dorf in West-Thüringen, ist vor der Wende für Fremde unerreichbar. Das Ort liegt mitten im 500 Meter Schutzstreifen. Bis zur Staatsgrenze sind es nur wenige hundert Meter. Schlagbäume und Postenhäuschen verstellen den Weg. Soldaten kontrollieren jeden, der rein oder raus will. Vor der Wende herrscht in Wenigentaft Ausnahmezustand, heute - dörfliche Idylle.

Christmann: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen hier in Wenigentaft, der wenige hundert Einwohner hat und der auch seine eigene Geschichte hat. Ab 52 galten besondere Verhaltensmaßregeln und besondere Bedingungen für die Menschen in diesem Schutzstreifen. Die Privatleute, die dann unmittelbar Land bewirtschafteten an der Grenzelinie mussten natürlich diese Tätigkeiten anmelden und sind auch von Sicherheitskräften überwacht worden. Vorschrift war: eine Stunde nach Sonnenaufgang durften die Arbeiten begonnen werden und eine Stunde vor Sonnenuntergang mussten sie beendet werden."

Ein älterer Zuhörer schüttelt ungläubig den Kopf. "Wie kann man bloß all diese Jahre unter solchen Bedingungen leben", will er von Christmann wissen. Der zuckt mit den Achseln, schaut fragend den zwei-Meter-Mann an, der vor ihm steht. Gerhard Lehmann blickt verlegen in die Runde. Schiebt sich bedächtig die weiße Mütze aus der Stirn, sucht vorsichtig nach einer Antwort.

Lehmann: "Ich habe heute selbstverständlich in vielen Fragen andere Ansichten und meine man hätte es anders lösen können. Zum Beispiel das ganze Problem der Reisebedingungen. Hätte man der Bevölkerung mehr Vertrauen entgegengebracht und nicht in jedem der einen Reiseantrag stellt einen Verräter gesehen, die meisten wären wiedergekommen."

Gerhard Lehmann ist so etwas wie ein Kollege von Wolfgang Christmann – nur hat damals jeder für die andere Seite gearbeitet. Lehmann als Major bei den Grenztruppen, Christmann als Polizist beim Bundesgrenzschutz. Früher Feind, heute Freund, sagt Lehmann und lacht. Er gründet nach der Wende mit Kollegen aus seiner Grenztruppe einen Verein. Sie wollen mitwirken, aufklären. Aus ihrer Sicht das Grenzregime darstellen.

Lehmann: "Wir haben uns zusammengerauft. In einigen Dingen musste ich Erkenntnis sammeln, in anderen Dingen ist man mir gefolgt. Bis vor acht Wochen, da hat es einen Knick gegeben, und zwar hat auf Betreiben irgendwelcher Geldgeber der Vorstand einen Beschluss gefasst, dass alle die sonst wie tätig für Point Alpha sind, eine Unbedenklichkeitserklärung herbeischaffen müssen, dass sie mit den Abwehrorganen nicht in Kontakt waren."

"Jetzt, nach 15 Jahren Wiedervereinigung, wollen sie uns ausboten", sagt Gerhard Lehmann, zieht sich die Schiebermütze tiefer ins Gesicht, kneift verärgert die braunen Augen hinter den blau getönten Brillengläsern zusammen. Als Offizier in verantwortlicher Position kann er ohne die militärische Abwehr doch gar nicht existieren. Daraus macht er nie einen Hehl.

Lehmann: "Und um nun nicht zu sagen, wir wollen die ehemaligen Grenzer loswerden hat man das so allgemein formuliert, wer Kontakte hatte, kann nicht mehr mitarbeiten."

Die Wanderungen auf dem Grenzlehrpfad macht seit Jahren sein Kollege Christmann. Dass er diesmal mitlaufen und seine Geschichte erzählen darf, das freut ihn.
Von Wenigentaft aus läuft die Gruppe Richtung Westen. Quer durchs Dorf, an alten Fachwerk- und modernen Einfamilienhäusern vorbei Richtung Grenzstreifen. Nichts erinnert mehr an den Ausnahmezustand. Weit und breit kein holpriges Pflasterstein, stattdessen glatt asphaltierte Straßen. "Die Schlagbäume und Postenhäuschen hat die Bundeswehr gleich nach der Wende abgerissen", sagt Gerhard Lehmann, der Wenigentaft noch von früher kennt. 40 Jahre lang hat er an der Grenze patrouilliert, sie kontrolliert. Sich darum gekümmert, dass der Erlass vom 27. Mai 1952 auch umgesetzt wird: Spione, Terroristen und nach DDR-Bild menschliche Schädlinge in das Gebiet nicht ein - und DDR-Bürger nicht ausreisen lassen. Auch wenn der ehemalige Major Lehmann Grenzübertritte in den Westen verhindern muss, "denen da oben ging es doch um was ganz anderes", erklärt er den 26 Besuchern.

Lehmann: "Die Grenze ist ja nicht aus der Faschingslaune eines besoffenen Grenzoffiziers so hergerichtet worden, sondern sie war Folge des verlorenen Zweiten Weltkrieges. Wenn man zurückblickt, die Sowjetunion ist vom Westen immer her bekämpft worden, das Zweckbündnis im Zweiten Weltkrieg war ja wirklich nur um das größere Übel zu bekämpfen, und als dieses Ziel erreicht war, und immer mehr Konfrontation, immer mehr Hegemonialstreben auf beiden Seiten, und so hat sich das hochgeschaukelt. Diese Grenze war nicht schlechthin Landesgrenze zwischen zwei Bundesländern, sie war auch nicht ne deutsch-deutsche Grenzen wie Herr Christmann immer sagt, das war die Trennlinie der beiden sich feindlich gegenüberstehenden hochgerüsteten Weltsysteme. Ein falsches Ding an dieser Grenze hätte ja einen Krieg auslösen können."

Keiner in der Gruppe widerspricht dem ehemaligen Major. Reinhold Michel atmet allerdings dreimal tief durch. Der Bundeswehrsoldat hat acht Jahre lang für die Nato gearbeitet. "Für mich verlief hier die Grenze zwischen Kommunismus und Demokratie", sagt er dann laut.

Die Strecke führt an saftigen Wiesen vorbei. Aus dem ehemaligen Todesstreifen ist nach 15 Jahren Einheit das grüne Band geworden: geschützte Lebensader für Tiere und Pflanzen. Reinhold Michel kommt oft hierhin. Läuft den inzwischen brüchigen Kolonnenweg entlang. Auf den betonierten Wegen können die Einsatzfahrzeugen der Grenztruppen schneller fahren. Mitten im so genannten Todesstreifen. Reinhold Michel fast sich an die Brust. Wenn er den verfallenen Kolonnenweg betritt, verrottete Grenzpfähle und verrosteten Stacheldrahtzäune sieht, kriegt er immer noch Herzklopfen.

Michel: "Ich bin mit meinen amerikanischen, französischen, englischen Kameraden auch öfter hier in die Gegend zu fahren, um denen zu zeigen, wofür wir eigentlich dienen. Unsere alliierten Kameraden, die hatten die Karte im Kopf. Die kannten fast jeden Namen, der hier eine Rolle spielte. Aber sie hatten keine Vorstellung vom Gelände. Es war ja für Amerikaner verboten, näher als einen Kilometer an die Zonengrenze zu gehen. Wir haben dann private Ausflüge gemacht und dann habe ich denen gezeigt, wie das hier mit der Grenze zusammenhängt, was wir Deutsche dabei fühlen und was wir von den alliierten Kameraden erwarten. Als Fuldaer war uns klar, dass wenn es losgeht, dann ist von Fulda nicht mehr viel übrig."

Gegenüber reckt sich der Arzberg in die Höhe. Misst knapp 600 Meter. Auf seiner Kuppe thront ein Felsen. Eine steinerne Faust mit ausgestrecktem Siegesdaumen. Ein Wallfahrtsberg, sagt Wolfgang Christmann. Nicht nur für Naturliebhaber. Er, sein Kollege Lehmann, die 12 Frauen und 14 Männer biegen vom Kolonnenweg ab. Laufen auf einem schmalen Trampelpfad direkt in ein dunkles Waldstück hinein.

Christmann: "Dieser Weg hier, den wir jetzt beschreiten war vor der friedlichen Revolution für Westdeutsche unerreichbar. Er lag auf dem Gebiet der DDR. Wir sind hier an einem Markierungspunkt, hier verläuft die Staatsgrenze der DDR zum nächsten Stein, den sie dann hier unten sehen. Und so setzt sich das an der gesamten Grenzlinie fort."

Kleine graue Grenzsteine markieren den Weg. Alle 50 Meter taucht ein neuer auf. Manche sind von Gestrüpp bedeckt. Im 19. Jahrhundert gehört der westliche Teil den Preußen, der östliche dem Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach. 250 Jahre später teilt diese Gemarkung Deutschland in zwei Hälften. Auf der glatten Quaderseite, die Richtung Osten zeigt, ist das Kürzel der Deutschen Demokratischen Republik eingemeißelt: DDR. Alle anderen Flächen sind blank. "Die Bundesregierung hat sich natürlich geweigert, dort ihr Kürzel eingravieren zu lassen", sagt Wolfgang Christmann. "Das wäre ja quasi die Anerkennung unserer DDR gewesen", fügt Gerhard Lehmann bissig hinzu.

Christmann: "Späten 60er, Anfang 70er Jahre sind diese Steine glaube ich, ab 74, 3.000 ab 74 nach der Grenzkommission, ja, etwa 3000 müssen es gewesen sein, die dann auf die Grenzlinie gesetzt worden sind."

Lehmann: "Vielleicht ne Ergänzung dazu, im Zuge der ganzen Entwicklung, auch der Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten kam es zu einer Vereinbarung. Es wurde eine gemeinsame Arbeitsgruppe gebildet,… Messtrupp West, Messtrupp Ost unter Begleitung BGS in Zivil Grenztrupp in Zivil … haben wir dann diese Steine gesetzt und überall wo ein historischer Stein … entweder verschwunden war oder kaputt abgebrochen, wurde neu ein gemessen und dann wurden diese Steine gestellt, die von der DDR zur Verfügung gestellt wurden, aber wie der Herr Christmann sagt, aus Kompetenzfragen eben ohne Insignien der Bundesseite."

Gestört hat das den Ex-Major Gerhard Lehmann allerdings nie.
Lehmann: "Ja für uns war doch damals die Position der Bundesrepublik Nichtanerkennung der DDR ein feststehendes Ding über das wir uns gar nicht mehr Gedanken gemacht haben. Wir konnten es ja eh nicht ändern. Für uns stand das fest: die wollen nicht. Grundgesetz und und und. Das war eben ein der vielen Ausdrucksformen … Hallstein Doktrin darf man nicht vergessen, die ja besagte, die BRD bricht die Beziehungen ab zu einem Staat, der die DDR anerkennt."

Mitten im Wald taucht plötzlich ein verrosteter Stacheldrahtzaun auf. Kein Überbleibsel von dem berüchtigten 3 Meter 20 hohen Streckmetallgitterzaun. Der stand 40 Meter weiter östlich, erklärt Lehmann. Das hier war Niemandsland oder besser gesagt: vor gelagertes Hoheitsgebiet der DDR. Lediglich die Aufklärer der Grenztruppen durften hier patrouillieren. Bis Mitte 1961 haben es trotzdem vier Millionen in den Westen geschafft. Irgendwie kann Wolfgang Christmann verstehen, warum aus Sicht der DDR dem Einhalt geboten werden musste. Das Land durfte nicht ausbluten, schließlich hatten sie damals nur 17 Millionen Einwohner. Doch der Zweck heiligt noch lange nicht die Mittel, sagt der ehemalige Bundesgrenzschutz-Beamte.

Christmann: "Minen sind oberflächlich in die Erde gebuddelt worden, bedeckt worden mit Erdkrume, es waren verschieden Modelle im Einsatz im Laufe der Jahre und bei gewissem Aufdruck zwischen drei und dreißig Kilopond etwa sind die Minen detoniert."

Unmenschlich, flüstert eine junge Frau. Sie schüttelt angewidert ihren rotblonden Lockenkopf. Wolfgang Christmann redet unbeirrt weiter. Erklärt, dass die Minen in einem Meter Abstand versetzt voneinander vergraben liegen. Eine besonders perfide Idee, findet der ehemalige Bundesgrenzbeamte. Trotzdem - nicht jeder Fehltritt ist sofort tödlich.

Christmann: "Das heißt, das Wirkungsspektrum hat sich dann entfaltet …ich gehe mal ein Stückel hoch … das Wirkungsspektrum an der Mine hat sich entfaltet auf das Geläuf, wenn also das rechte Bein, das Standbein eine Mine ausgelöst dann hat sich die ganze Kraft auf das Laufwerk, auf das Standbein entfaltet und je nach Entfernung des zweiten Beines konnte es passieren, dass da noch ein Fuß abgerissen wurde oder der Unterschenkel."

Viele der Verletzten bleiben manövrierunfähig liegen, verbluten langsam. Der frühere NVA-Major Gerhard Lehmann hört erst schweigsam zu, mischt sich dann aber doch ein: Die Minen, sagt er, lagen nicht lückenlos von der Lübecker Bucht bis nach Plauen. Höchsten 60 Prozent der Grenzlinie war vermint und 1984 wurden die meisten sowieso wieder geräumt. Zuhause hat er sich ein kleines Archiv zusammengestellt. Führt penibel Buch darüber, wer in seinem Regiment ums Leben kommt. Egal ob Grenzer oder Grenzverletzer.

Lehmann: "Die größte Niederlage, der größte Gau will ich nicht sagen, der größte Unfall der denkbar war, war die Verletzung eines Grenzverletzers oder auch ein Soldat der zu Schaden kam."

Ungläubig schaut die junge Frau mit den rotblonden Locken den 70-Jährigen an. 40 Jahre lang arbeitet er bei der Grenztruppe. Sucht sich den Job sogar freiwillig aus. Hat den Auftrag auf Menschen zu schießen, die in den Westen flüchten wollen. Gerhard Lehmann nimmt davon keine Notiz.

Lehmann: "Für uns war ja Freiheit nicht tun zu können was ich will. Sondern für uns war Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit. Aber heute meint man doch in die Freiheit zu flüchten sei das Recht gewesen und zu tun was man will. Für uns war das ... na ja ... ein schwieriges Kapitel. Aber es gehörte eben dazu. So wie es für jeden Sicherheitsmann dazu gehört, dass er in die Situation kommen kann. Ich hab nach der Wende noch fünf Jahre Geldtransport gefahren. Hätte mir es genauso passieren können, dass ein Überfall hätte stattgefunden und ich hätte von der Waffe Gebrauch machen können. Was denkt man da? Möge es mir erspart bleiben. Und diese stille Hoffnung, es möge mir erspart beleiben, die hat mich 40 Jahre lang begleitet."

Sie wurde jedoch nicht immer erfüllt. Auf einem Zettel hat Lehmann alle Todesfälle notiert, an die er sich erinnern kann. Aus seiner Hosentasche kramt er ein weißes Papier, liest laut vor: drei Soldaten der NVA, ein Zollbeamter, drei Flüchtende, zwei Selbstmorde

Lehmann: "Ich habe einen Soldaten beerdigt in Pockau im Erzgebirge, der war in der Kompanie Geisa, der hat sich mit seiner Dienstwaffe während des Wachdienstes erschossen, weil er es nervlich nicht verarbeiten konnte, dass in diesem Abschnitt ein Grenzverletzer durch ne Minendetonation verletzt wurde. Das wurde ein bisschen dramatisiert in der Kompanie und das hat diesen jungen Mann, der in einer kirchlichen Sekte gebunden war so verunsichert oder verrückt gemacht, dass er sich erschossen hat."

Genervt wendet sich die junge Frau von Lehmann ab. Geht ein paar Schritte weg, bis sie seine Stimme nicht mehr hören kann. Möge es mir erspart bleiben, den Satz presst sie mehrmals verärgert durch ihre Lippen.

Richter-Gei: "Schlimm, ich möchte es nicht mehr hören. Es ist für mich ganz schlimm, ich kann es nicht mehr hören. Ich mein, der Sozialismus hat viele Sachen gehabt, die gut waren, aber diese totalitäre Sache, dass man in diese Richtung gehen musste, und dass man das schon vertreten musste, wenn man irgendwie ein Stückchen vorwärts kommen wollte. Also das, was man gedacht hat man schon verdrängen müssen."

Mareike Richter-Gei stammt aus Waldheim in Sachsen. 1992 geht sie in den Westen. Aus beruflichen Gründen. Ihr Bruder, erinnert sie sich, hat auch anderthalb Jahre an der Grenze gedient. Ungern denkt sie an diese Zeit zurück, doch nach Lehmanns Ausführungen kommen all die Erinnerungen wieder in ihr hoch, die sie so lange unterdrückt hat.

Richter-Gei: "Der ist ein sehr sensibler, … und ich weiß, je mehr das zum Ende dieser Dienstzeit kam habe ich Angst um meinen Bruder gehabt. Der war psychisch so am Ende. Es ist nie was passiert, er hat ja nie schießen müssen, es ist niemand irgendwo auf eine Mine getreten. Es ist in diesem Grenzabschnitt nie etwas passiert, aber der war so fertig, dass ich wirklich Angst gehabt habe, dass der sich was antut."

Fünf Minuten später reißt sich Mareike Richter-Gei wieder zusammen. Sie läuft zurück zur Gruppe, die sich noch immer um den früheren Major Gerhard Lehmann schart. Ungläubig lauscht sie seinen letzten Worten.

Lehmann: "Ich habe mir als es zu Ende ging und danach naturgemäß Gedanken gemacht. Mensch hast du was falsch gemacht. Was hast du falsch gemacht, was hast du richtig gemacht, und ich habe immer wieder die Antworten verworfen und neue Fragen gestellt. Ich bin dann auf eine Frage gekommen, die ich als die Kardinalsfrage sehe: War es rechtens nach Faschismus, nach Krieg, nach Bomben den Versuch zu unternehmen, ein anderes Deutschland aufzubauen und ich sage der Versuch war rechtens."

Stille. Viele schauen betreten zur Seite. Wolfgang Christmann räuspert sich, ruft zum Aufbruch. Drei Kilometer Strecke liegen noch vor ihnen.

Der Trampelpfad führt hinab ins Tal. Nach einer halben Stunde Fußmarsch gibt der Wald den Blick frei. Die 28 Wanderer treten auf eine Lichtung. Rechts sehen sie ein renoviertes Bauernhaus – die Buchenmühle. Links nur noch die Grundmauern eines verfallenen Fachwerkhauses. Die innerdeutsche Grenze hat das Gehöft in zwei Hälften geteilt. In den 50ern, sagt Wolfgang Christmann, kamen noch Grenzer zum Buchenmüller. Haben sich zu ihm gesetzt, zusammen getrunken und Karten gespielt. Zehn Jahre später ist das längst Geschichte.

Christmann: "Am Morgen des 15. Septembers 1961 haben Bausoldaten das Haus bis auf die Grundmauern abgerissen. Hilfe durch den BGS war zu der Zeit nicht mehr möglich, denn sie hätten ja auf sowjetisches Gebiet gemusst."

In unzähligen Windungen und Schlingen zieht sich 40 Jahre lang die innerdeutsche Grenze durch das Land. Fast 1400 Kilometer lang. Wanderer erkennen das heute höchsten an den Schneise, die sich durch die Landschaft fräsen.

Christmann: "Das ist gerodeter Streifen. Man sieht diese Vernarbungen verheilen nur langsam in der Natur. An manchen Stellen dauert es ewige Zeit bis das nachgewachsen ist. Ich nehme an, an dieser Stelle ist sehr viel mit Pestiziden und Fungiziden gearbeitet worden."

Richtung Westen erheben sich fünf Berge, die zum hessischen Kegelspiel gehören. Eine Laune der Natur, die vor 25 Millionen Jahren begann. Die basaltenen kegelartigen Berge haben Vulkane geformt.

Nach fünf Stunden Fußmarsch taucht am Horizont endlich der Geisaer Stadtwald auf. Links davon erheben sich der lang gestreckte Rößberg mit 694 und der Roggenstuhl mit 522 Metern. Darauf, erklärt Wolfgang Christmann, sind zu Zeiten des Kalten Krieges Nachrichtenanlagen installiert. Die Gehöfte und Weiler, die dort stehen, werden nach und nach geschleift. Das heißt dem Erdboden gleich gemacht. Geschleifte Höfe, davon gibt es zwischen der Werra und der hohen Rhön über 40. Inzwischen wächst längst Gras drüber.
Nach 15 Jahren deutscher Einheit ist von dieser Grenze kaum noch etwas zu sehen. Dafür in letzter Zeit aber wieder viel mehr zu spüren, sagt Mareike Richter-Gei nachdenklich. Viele in die Runde nicken mit dem Kopf. Doch vergessen, darin sind sich alle einig, sollte wir sie nie.

Richter-Gei: "Man sollte diese Grenze, diese innerdeutsche Grenze, die mal existiert hat, im Bewusstsein der Menschen behalten und das weiter pflegen und den jungen Menschen zeigen, was hier gewesen ist und dass das nicht wieder kommen soll. Es dazu beitragen, zur Völkerverständigung, nicht nur unter Deutschen, sondern auch den jungen Menschen zeigen was werden kann, wenn so´n Hass existiert zwischen den Menschen egal was, und das die Menschen aufeinander zugehen sollen."