Wann beginnt menschliches Leben?

Von Michael Hollenbach |
Ab wann sprechen die Vertreter der verschiedenen Weltreligionen von einem Menschen? Diese theologische Frage hat ganz praktische Konsequenzen. Zum Beispiel für die umstrittene Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, über die in der kommenden Woche im Bundestag debattiert wird.
Am Anfang war die Befruchtung – die Verschmelzung von Samen- und Eizelle. Für den katholischen Moraltheologen Eberhard Schockenhoff entsteht mit der Kernverschmelzung nicht nur der Embryo, sondern in vollem Umfang zu schützendes menschliches Leben:

"'"Er ist Mensch, und mit dem Abschluss der Befruchtung verfügt er über ein eigenes Entwicklungsprogramm, das entwickelt sich nicht erst allmählich, sondern das ist mit dem Austausch der mütterlichen und väterlichen Gameten gegeben.""

Dass die Menschwerdung für die katholische Kirche identisch mit dem Zeitpunkt der Befruchtung ist, lasse sich – so Schockenhoff – allerdings nicht so sehr aus den christlichen Glaubensschriften ableiten, sondern eher aus den Fortschritten der Biologie. Daraus folgt für den Moraltheologen:

"'"Wenn man das jetzt aus heutiger Sicht beschreibt, dann ist es so, dass die katholische Kirche ihre Lehrverkündigung nicht an philosophische Konzepte bindet, sondern sie sagt, dass dem menschlichen Embryo von Anfang an der Respekt geschuldet ist, der dem Mensch an sich zukommt, dass also eine Abstufung der fundamentalen Rechte des Menschseins nicht zulässig ist.""

Allerdings gibt es durchaus christliche Kritiker dieser Kernverschmelzungsthese. Denn der Hinweis, dass in dem frühesten Embryo die genetische Identität des Menschen angelegt ist, reduziert nach Ansicht dieser Kritiker das Bild des Menschen unzulässig auf seine Gene. Der evangelische Theologe Friedrich Hauschildt, Vizepräsident im Kirchenamt der EKD, plädiert dennoch dafür, die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle als Beginn des menschlichen Lebens zu sehen:

"Nun taucht das schwierige Problem auf: Gibt es einen Übergang von einer Stufe zur anderen, der es rechtfertigt zu sagen: Vorher sei noch kein menschliches Leben, danach sei menschliches Leben. Wenn man sich nun die Entwicklungsstufen anschaut, dann kommt man, das ist die evangelische Auffassung – zu der Erkenntnis, der wirklich deutliche Einschnitt ist die Befruchtung."

Allerdings: Mehr als die Hälfte der befruchteten Eizellen stirbt vorzeitig ab. Keiner käme auf die Idee, auch wenn er diese Zygote als Mensch definiert, ein Bestattungsritual vorzuschlagen. Außerdem – so der evangelische Ethiker Klaus Tanner - hat ein im Reagenzglas erzeugter Embryo keine Entwicklungschance, wenn er nicht in die Gebärmutter eingesetzt wird. Ein weiterer Kritikpunkt: Die Zygote sei eine Zelle, wie jede andere menschliche Zelle auch. Die moderne Embryonenforschung habe bewiesen, dass jede Zelle das Potenzial aufweise, sich zu einem lebensfähigen Menschen zu entwickeln. Dem hält der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff entgegen, dass man nicht alle Zellen gleichsetzen dürfe:

"Dieser Imaginationsfähigkeit braucht es natürlich, denn das, was wir sehen unter dem Mikroskop, ist ja tatsächlich nur ein Achtzeller, und wodurch unterscheidet sich dieser Achtzeller von anderen Zellen? Das kann man allein unter dem Mikroskop nicht sehen, dazu braucht es die Fähigkeit, sich in die Lebensperspektive eines Menschen hineinzuversetzen."

Auch wenn die offizielle Haltung der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, von der Kernverschmelzungsthese ausgeht, so gibt es bei den Protestanten keine Lehrmeinung ex cathedra. Sowohl bei der Präimplantationsdiagnostik als auch beim Schwangerschaftsabbruch sei die seelsorgerliche Situation des Individuums zu berücksichtigen, sagt Friedrich Hauschildt:

"Die evangelische Ethik ist traditionell stärker darauf eingestellt, auch einzelne Lebenssituationen ins Auge zu fassen und hier zu einem seelsorgerlich verantwortbaren Urteil zu kommen. Das kann man auch an der Abtreibungsproblematik sehen, dass uns das Leben in ethische Dilemmata führt, die wir nicht ohne Schuld bestehen können, dafür hat die evangelische Ethik ein starkes Verständnis."

Doch die sehr frühe Datierung menschlichen Lebens im Christentum ist noch nicht sehr alt: Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt das Konzept der sogenannten sukzessiven Beseelung, also die Meinung, dass die Beseelung des Menschen eine Entwicklung darstelle. Mittelalterliche Theologen wie Thomas von Aquin beriefen sich auf den griechischen Philosophen Aristoteles, wenn sie auf bestimmte Fragen in den heiligen Schriften keine Antworten fanden:

"Er geht davon aus: Es dauert bei einem männlichem Embryo 40 Tage und bei einem weiblichen Embryo 80 Tage, das hängt zusammen mit der aristotelischen Vorstellung, dass die ganze Formkraft des neuen Lebewesen allein im männlichen Samen besteht und die Frau nur das Menstruationsblut als materielle Voraussetzung bietet, und dass wenn es zur Geburt eines Mädchens kommt, es schon Ausdruck eine Versagens der Natur ist, weil der männliche Same ein ihm Ähnliches hervorbringen möchte und da nahm Aristoteles an, dass das 40 Tage beim Mann und 80 Tage beim Mädchen benötigt."

Damit liegen Aristoteles und die alte christliche Vorstellung nicht weit entfernt von der Datierung des Lebensbeginns im Judentum – das allerdings keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Embryo macht.

" Wir sagen im Judentum, bis zum 40. Tag entsteht der Embryo, und in dieser Phase nennt man den Embryo Golem."
Der Rabbiner Gabor Lengyel erläutert, dass nach den jüdischen Schriften dieser Golem noch nicht beseelt ist.

"Weil man sagt, in den 40 Tagen ist dieser Embryo entweder 'bassar', also Fleisch der Mutter, und die andere Version sagt pures Wasser, und erst danach da ist der Embryo als menschliches Lebewesen erkennbar."

Nach traditionellem jüdischem Verständnis seien drei Partner an der Entstehung des Menschen beteiligt:

"Gott, Vater und Mutter, vom Vater kommt der weiße Samen, also die Knochen, die Nägel, das Gehirn; von der Mutter kommt der rote Samen: Haut, Fleisch, Blut. Gott bringt dem Menschen Geist, das Leben, das Atmen, das Hören, das Sehen, Wissen, Weisheit."

Gott entscheide zum Beispiel über das Geschlecht, oder ob jemand stark oder schwach werde, aber die Entwicklung des Charakters, ob jemand gut oder böse werde, das liege in der Händen der Menschen.

Diese religiösen Vorstellungen über eine späte Menschwerdung haben bis heute Konsequenzen. Die meisten jüdischen Gelehrten haben keine Einwände gegen die Embryonenforschung oder bei der Präimplantationsdiagnostik, die in Israel relativ oft durchgeführt wird. Diese Position gilt übrigens auch für die muslimischen Geistlichen. Denn auch die islamischen Schriften datieren den Beginn des menschlichen Lebens sehr spät.

"Wenn einer von euch geschaffen wird, so wird er im Leib seiner Mutter vierzig Tage lang zusammengebracht. Dann ist er dort ebenfalls ein Blutklumpen, dann ist er dort ebenfalls ein Fleischklumpen, dann wird ihm der Engel geschickt, der ihm die Seele einhaucht."

Dieser Ausspruch des Propheten Mohammed ist so zu verstehen, dass die Menschwerdung 120 Tage dauert. Der muslimische Medizinethiker Ilhan Ilkilic:

"Die Embryonenbeseelung verändert im moralischen Sinn den Status des menschlichen Lebens, deswegen ist danach der menschliche Embryo schützenswerter als vorher und deswegen darf kein Schwangerschaftsabbruch stattfinden."

Allerdings weist Ilhan Ilkilic darauf hin, dass es in den vergangenen Jahren eine breite Diskussion unter islamischen Geistlichen über den Beginn des Lebens gebe. Reformer wenden sich gegen eine Datierung des Lebensbeginns erst 120 Tage nach der Befruchtung: Während im Judentum und im Islam das Schwergewicht auf die heiligen Schriften gelegt wird, orientieren sich christliche Theologen eher an den Naturwissenschaften, wenn es um die Frage geht, wann menschliches Leben beginnt.

Der evangelische Theologe Friedrich Hauschildt erklärt diese unterschiedliche Herangehensweise so:

"Die christliche Wirklichkeitsdeutung vor allem in ihrer evangelischen Ausprägung ist stark durch die Aufklärung hindurchgegangen, und mit der Aufklärung ist ein vertieftes Verständnis für das Individuum und für die Würde des Personseins entstanden und so verstehe ich die Tatsache, dass die christliche Ethik an diesem Punkt zu einer Schärfung gegenüber Judentum und Islam gekommen ist."

Allerdings liegt die restriktive Haltung der Theologen hierzulande nicht nur an den ethischen Koordinaten des Christentums, denn in anderen Ländern wie in Frankreich und Großbritannien kommen die Kirchen bei vergleichbaren religiösen Traditionen zu liberaleren Schlussfolgerungen beim Thema "Embryonen". Es sind die furchtbaren Erfahrungen der Selektion während des Nationalsozialismus, die noch heute dafür sorgen, dass die deutschen Kirchen kritischer als andere Christen auf die Embryonenforschung blicken.
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