War der Briefträger schon da?

Von Florian Felix Weyh |
In der schönen Literatur dürfte kaum eine Frage trotz ihrer Unscheinbarkeit öfter gestellt worden sein als jene: "War der Briefträger schon da?" Tausende von literarischen Helden, mit ihnen die Leser in der Wirklichkeit, fieberten Liebesbriefen entgegen, nahmen bange gerichtliche Vollzugsbescheide in Empfang, jubelten über die Stellenzusage eines neuen Arbeitgebers.
Vom Briefträger hing es ab, ob der Tag einen angenehmen Verlauf nehmen würde oder nicht. Früher, so berichten mit leisem Vorwurf ältere Menschen, kam die Post sogar zweimal am Tag, und bescherte die doppelte Chance auf einen Brief der fernen Geliebten.

Gemach, Liebesworte gibt man heute per Handy, SMS oder E-Mail durch, eines Postboten bedarf es dazu nicht. Der schleppt stattdessen dicke Versandkataloge an und viermal wöchentlich die gleiche Versicherungswerbung. Auch die sentimentalen Vorwürfe der Älteren kann er von sich weisen: Post kommt heute nicht nur einmal oder zweimal am Tag, sondern drei- bis viermal. Mein persönlicher Rekord liegt, Büchersendungen von Paketdiensten einberechnet, sogar bei sechs Kastenfüllungen innerhalb eines Arbeitstags. Zum Jubeln bringt mich das indes nicht, denn es ist eben nicht mein Briefträger, der mich mehrmals täglich besucht, nein, es sind sechs verschiedene Menschen von sechs verschiedenen Postdienstleistern, die insgesamt sechsmal den Weg zu mir nehmen, manchmal im Abstand weniger Minuten. Volkswirtschaftlich ist das ebenso haarsträubend wie umweltpolitischer Unfug, denn höchstens die Hälfte von ihnen kommt per Pedes oder mit dem Fahrrad, der Rest verschmutzt mit seinen Dieselautos meine Atemluft.

Ausgedacht hat sich diesen Schelmenstreich die EU, als sie sich schon vor Jahren anschickte, neben vielen anderen Märkten auch den der Postdienstleistungen zu liberalisieren. Mehr Anbieter des gleichen Produkts, so ihre simple Formel, ergibt sinkende Preise für den Konsumenten – und das wollen wir ja alle.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich bin ein vehementer Befürworter von Liberalisierungen. Meinen Stromanbieter habe ich schon mehrfach gewechselt, wodurch ich in den Pionierjahren in die kuriose Situation geriet, mit 50 Euro Abschlagszahlung zum langjährigen Gläubiger eines insolventen Strombrokers zu werden; Kinderkrankheiten, die ein mündiger Konsument heroisch wegsteckt. Der Ex-Telefonmonopolist wird mich nie mehr als Kunden zurückgewinnen, weil das, was ich mit ihm in Staatszeiten an Ärger erlebte, für ein Menschenleben ausreicht; gebessert hat er sich durch die Konkurrenz nur marginal. Aber bei der Struktur doppelt, dreifach, vierfach geschaffen werden, was sich – im Unterschied zu anderen Monopolen – nicht durch bloße Investitionen in Technik lösen lässt.

Bei einer etwaigen Bahnprivatisierung Parallelgleise neben die staatlichen Schienen zu legen, kostete beispielsweise nichts als totes Geld und soll darum schwachen Geistern als Möglichkeit der Geldvernichtung offen stehen. Jeder nach seiner Façon! Doch neue Briefzustelldienste brauchen Briefzusteller, Menschen – und diese, das lässt sich absehen, werden kaum glückliche Arbeitnehmer sein. Wo man nämlich aus Konkurrenzgründen die Preise senken muss, um im Markt zu bestehen, nicht aber zugleich technisch rationalisieren kann, drückt man notwendigerweise die Löhne. Das unterscheidet den Widerstand der Postboten gegen die Aufhebung des Briefmonopols vom Kampf der Telekom-Mitarbeiter. Letztere sind vermutlich weitaus entbehrlicher, als sie sich selbst fühlen, der Technik sei Dank. Hier Protektionismus walten zu lassen, wäre ein fatales Signal, denn technischer Fortschritt darf nie zu Gunsten veralteter Arbeitsplätze blockiert werden; nur durch den Produktivitätszuwachs kann man andernorts benötigte menschliche Arbeit angemessen bezahlen. Irgendwann war für das Telefonfräulein Schluss, dafür gibt es heute Softwareentwickler – die ein X-Faches an Lohn einstreichen.

Für den Briefträger indes wird nie Schluss sein, so lange Post ausgetragen werden muss. Er lässt sich nicht durch einen Roboter ersetzen, und wenn für seine Arbeit die Portogebühren gar stiegen, wäre das nicht nur verkraftbar, sondern – gut! Denn nur hohe Portokosten bilden einen wirksamen Filter gegen den Werbemüll. Die Auflösung des Briefmonopols entlastet die Marketingetats der Unternehmen, dem Privatkunden bringt sie kaum Vorteile. Da ich seit Jahren meine Portogebühren im Blick habe, weiß ich, dass ich selbst bei der Verdoppelung des Briefportos nicht mal den Wert von vor zehn Jahren erreichen würde – so sehr ist seither mein Postaufkommen gesunken. Längst hat die E-Mail 80 Prozent aller schriftlichen Kommunikationsvorgänge abgelöst, und die körperliche Kraft des Briefträgers nehme ich nur noch in dringenden Fällen in Anspruch. Das dürfte ruhig 1,10 Euro kosten – wenn dieser Sperrfilter mich vor dem Missbrauch meines Briefkastens als Papiermülltonne schützt, wenn er anständige Löhne für den Postboten garantiert, damit dieser dann so zuverlässig arbeitet, wie ich es für diesen Preis erwarten kann.

Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Ein neues Buch "Vermögen – Was wir haben, was wir können, was wir sind" erschien 2006. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin© Katharina Meinel