Warnung vor dem "Genderzid"
Das Buch ist kein stilistisches Meisterwerk. Es ist eine Streitschrift, faktenreich und weitgehend gut recherchiert. Zentrales Ziel ist es, dem Leser Empathie abzugewinnen. Und das schafft der Text zweifellos.
Die Fälle sind extrem, aber real. Sie rütteln wach und berühren gleichermaßen. Über mehrere Jahre haben Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn, ein Journalistenehepaar aus der Redaktion der "New York Times", auf ihren Recherchereisen furchtbare Einzelschicksale von Mädchen und Frauen aus den hintersten Winkeln des Erdballs zusammengetragen. Ihre Protagonistinnen mussten allesamt durch die Hölle – viele kamen wieder raus, manche blieben.
"Du´a wurde zu Boden geworfen, und ihr schwarzer Rock wurde ihr vom Leib gerissen, um sie zu beschämen. Ihr langes, dichtes Haar floss um ihre Schultern. Sie versuchte vom Boden hochzukommen, aber die Männer traten mit Füßen auf sie ein, als wäre sie ein Fußball. In Todesangst versuchte sie, die Tritte abzuwehren, aufzustehen, sich zu schützen, ein hilfsbereites Gesicht in der Menge zu finden.
Inzwischen hatten die Männer Steine und Betonblöcke herbeigeschafft und versuchten, ihren Körper darunter zu begraben. Die meisten Brocken purzelten zur Seite, aber Du´a blutete aus immer mehr Wunden. Einige Steinbrocken trafen ihren Kopf. Ihr Todeskampf dauerte 30 Minuten."
Es ist nicht die Lust am Schockieren, die beide Autoren zu ihrem Buch, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt, angetrieben hat. Es ist auch kein Voyeurismus. "Die Hälfte des Himmels" ist ein flammender Appell zur Bewahrung der Menschenwürde. Zugleich ist das Werk ein Ratgeber, der Wege aus dem Elend aufzeigen will. Dazu wird die Arbeit zahlreicher Organisationen ausführlich vorgestellt - Best Practices für Mädchen- und Frauenarbeit in der ganzen Welt, sozusagen.
"Vergewaltigungen sind in Südafrika zu einer wahren Seuche geworden; eine Medizintechnikerin namens Sonette Ehlers hat deswegen ein Produkt entwickelt. Es ist eine elastische Hülse mit spitzen Stacheln auf der Innenseite.
Die Frau führt das Ding mithilfe eines Schiebers ein wie ein Tampon, und wenn ein Mann sie zu vergewaltigen versucht, krallen sich die Stacheln in seiner Eichel fest, und er muss die Notaufnahme aufsuchen.
Als Kritiker monierten, das Rapeex sei ein mittelalterliches Folterwerkzeug, kommentierte Frau Ehlers lapidar: 'Eine mittelalterliche Strafe für eine mittelalterliche Tat'."
Die Brisanz des Themas versuchen Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn mit Zahlen und Fakten zu belegen, und dabei schrecken sie auch nicht vor deutlichen Worten zurück. In Anlehnung an den Begriff des Genozids sprechen sie etwa von einem alltäglichen "Genderzid":
"Die globalen Statistiken über den Missbrauch von Mädchen sind monströs. Es zeigt sich, dass in den letzten fünfzig Jahren mehr Mädchen getötet wurden, nur weil sie Mädchen waren, als die Gesamtzahl aller Männer, die in den Schlachten des zwanzigsten Jahrhunderts zu Tode gekommen sind."
Man könnte geneigt sein, hinter ihren Ausführungen puren Alarmismus zu vermuten. Insbesondere da im Westen derzeit diverse so genannte Islamkritiker Raum greifen und Intellektuelle den Bürgern Mut zum Chauvinismus aufschwatzen wollen. Doch genau an der Stelle agiert das Autorenpaar sensibel. Gewiss, der Fokus richtet sich auf Entwicklungsländer, und ja, sie schauen auch durch die Brille zweier vom Schicksal begünstigter US-Amerikaner auf die Welt. Aber es gelingt ihnen trotzdem, die Klippen der Pauschalisierungen weitgehend zu umschiffen und keine falschen Eindrücke aufkommen zu lassen.
"Ist der Islam frauenfeindlich?" ist etwa ein Kapitel überschrieben. Und wo andere mit plumpen eindimensionalen Antworten aufwarten würden, bemühen sie sich um Differenzierung – ohne dabei auch nur einen Deut von ihrer zentralen Botschaft abzurücken: Es gibt verdammt noch mal viele Missstände und dagegen muss man was tun. Genau das macht das Buch so stark. So berichtet es auch über gute Beispiele aus Staaten, die es geschafft haben, junge Frauen zu fördern, ihnen Arbeit und Bildung zu verschaffen.
"Das Grundrezept war überall das gleiche: Sie haben die Repression gelockert, Mädchen die gleiche Bildung verschafft wie Jungen, es den Mädchen erleichtert, in die Städte zu gehen und Fabrikarbeiten anzunehmen, und dann von einer demographischen Dividende profitiert, da Heiratspläne verschoben und weniger Kinder geboren wurden."
Frauen bilden die Hälfte der Gesellschaft. Sie sind Tochter, Schwester, Freundin, Geliebte, Ehefrau, Mutter und Berufstätige. Aber sie sind im Vergleich zu Männern nach wie vor auch immer noch eines: Opfer! Sie werden unterdrückt, verkauft, verprügelt, missbraucht, verstümmelt oder getötet. Nur, ohne Freiheit, Bildung und Arbeit, also ohne die Mithilfe der Frauen wird es nirgendwo auf der Welt Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden geben. Davon sind auch Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn überzeugt.
"Frauen sind nicht das Problem, sondern die Lösung. Die Notlage der Mädchen ist nicht nur eine Tragödie, sie kann ebenso gut eine Chance werden."
Das Buch "Die Hälfte des Himmels" ist kein stilistisches Meisterwerk. Es ist eine Streitschrift, faktenreich und weitgehend gut recherchiert. Zentrales Ziel ist es, dem Leser Empathie abzugewinnen. Und das schafft der Text zweifellos! Dennoch: Für die meisten von uns, die wir im 21. Jahrhundert überwiegend modern, fortschrittlich, weitgehend gleichberechtigt in westlichen Industrieländern leben, sind die im Buch geschilderten Probleme ganz weit weg.
Und das ist das Erschütternde. Man sitzt im Sessel, liest, schlägt das Buch am Ende zu, denkt darüber nach, redet vielleicht noch darüber, dann greift man zum nächsten. Die beiden amerikanischen Journalisten halten dagegen. Vom Idealismus getrieben, setzen sie auf Kenntnis und dann auf Erkenntnis und schließlich auf das Engagement der Leser. Um selbst etwas gegen Ungerechtigkeiten tun, bedürfe es nicht einmal mehr als zehn Minuten.
In den beiden letzten Kapiteln ihres Buches schlagen sie beispielsweise vor, dass sich jedermann, jedefrau für bestimmte Initiativen im Internet registrieren könne. Sie empfehlen seriöse Adressen, die sich alle zum Ziel gemacht haben, Frauen in Not zu helfen. Und genau darum muss es gehen: Wir alle müssen unseren Beitrag dazu leisten, Frauen mindestens die Hälfte des Himmels zu verschaffen!
"Im 19. Jahrhundert galt die Sklaverei als die größte moralische Herausforderung. Im 20. Jahrhundert war es der Kampf gegen den Totalitarismus. Wir glauben, in unserem jetzigen Jahrhundert wird es der Kampf für die Gleichheit der Geschlechter in den Entwicklungsländern sein."
Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn: Die Hälfte des Himmels. Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen
C.H. Beck Verlag, München 2010
"Du´a wurde zu Boden geworfen, und ihr schwarzer Rock wurde ihr vom Leib gerissen, um sie zu beschämen. Ihr langes, dichtes Haar floss um ihre Schultern. Sie versuchte vom Boden hochzukommen, aber die Männer traten mit Füßen auf sie ein, als wäre sie ein Fußball. In Todesangst versuchte sie, die Tritte abzuwehren, aufzustehen, sich zu schützen, ein hilfsbereites Gesicht in der Menge zu finden.
Inzwischen hatten die Männer Steine und Betonblöcke herbeigeschafft und versuchten, ihren Körper darunter zu begraben. Die meisten Brocken purzelten zur Seite, aber Du´a blutete aus immer mehr Wunden. Einige Steinbrocken trafen ihren Kopf. Ihr Todeskampf dauerte 30 Minuten."
Es ist nicht die Lust am Schockieren, die beide Autoren zu ihrem Buch, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt, angetrieben hat. Es ist auch kein Voyeurismus. "Die Hälfte des Himmels" ist ein flammender Appell zur Bewahrung der Menschenwürde. Zugleich ist das Werk ein Ratgeber, der Wege aus dem Elend aufzeigen will. Dazu wird die Arbeit zahlreicher Organisationen ausführlich vorgestellt - Best Practices für Mädchen- und Frauenarbeit in der ganzen Welt, sozusagen.
"Vergewaltigungen sind in Südafrika zu einer wahren Seuche geworden; eine Medizintechnikerin namens Sonette Ehlers hat deswegen ein Produkt entwickelt. Es ist eine elastische Hülse mit spitzen Stacheln auf der Innenseite.
Die Frau führt das Ding mithilfe eines Schiebers ein wie ein Tampon, und wenn ein Mann sie zu vergewaltigen versucht, krallen sich die Stacheln in seiner Eichel fest, und er muss die Notaufnahme aufsuchen.
Als Kritiker monierten, das Rapeex sei ein mittelalterliches Folterwerkzeug, kommentierte Frau Ehlers lapidar: 'Eine mittelalterliche Strafe für eine mittelalterliche Tat'."
Die Brisanz des Themas versuchen Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn mit Zahlen und Fakten zu belegen, und dabei schrecken sie auch nicht vor deutlichen Worten zurück. In Anlehnung an den Begriff des Genozids sprechen sie etwa von einem alltäglichen "Genderzid":
"Die globalen Statistiken über den Missbrauch von Mädchen sind monströs. Es zeigt sich, dass in den letzten fünfzig Jahren mehr Mädchen getötet wurden, nur weil sie Mädchen waren, als die Gesamtzahl aller Männer, die in den Schlachten des zwanzigsten Jahrhunderts zu Tode gekommen sind."
Man könnte geneigt sein, hinter ihren Ausführungen puren Alarmismus zu vermuten. Insbesondere da im Westen derzeit diverse so genannte Islamkritiker Raum greifen und Intellektuelle den Bürgern Mut zum Chauvinismus aufschwatzen wollen. Doch genau an der Stelle agiert das Autorenpaar sensibel. Gewiss, der Fokus richtet sich auf Entwicklungsländer, und ja, sie schauen auch durch die Brille zweier vom Schicksal begünstigter US-Amerikaner auf die Welt. Aber es gelingt ihnen trotzdem, die Klippen der Pauschalisierungen weitgehend zu umschiffen und keine falschen Eindrücke aufkommen zu lassen.
"Ist der Islam frauenfeindlich?" ist etwa ein Kapitel überschrieben. Und wo andere mit plumpen eindimensionalen Antworten aufwarten würden, bemühen sie sich um Differenzierung – ohne dabei auch nur einen Deut von ihrer zentralen Botschaft abzurücken: Es gibt verdammt noch mal viele Missstände und dagegen muss man was tun. Genau das macht das Buch so stark. So berichtet es auch über gute Beispiele aus Staaten, die es geschafft haben, junge Frauen zu fördern, ihnen Arbeit und Bildung zu verschaffen.
"Das Grundrezept war überall das gleiche: Sie haben die Repression gelockert, Mädchen die gleiche Bildung verschafft wie Jungen, es den Mädchen erleichtert, in die Städte zu gehen und Fabrikarbeiten anzunehmen, und dann von einer demographischen Dividende profitiert, da Heiratspläne verschoben und weniger Kinder geboren wurden."
Frauen bilden die Hälfte der Gesellschaft. Sie sind Tochter, Schwester, Freundin, Geliebte, Ehefrau, Mutter und Berufstätige. Aber sie sind im Vergleich zu Männern nach wie vor auch immer noch eines: Opfer! Sie werden unterdrückt, verkauft, verprügelt, missbraucht, verstümmelt oder getötet. Nur, ohne Freiheit, Bildung und Arbeit, also ohne die Mithilfe der Frauen wird es nirgendwo auf der Welt Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden geben. Davon sind auch Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn überzeugt.
"Frauen sind nicht das Problem, sondern die Lösung. Die Notlage der Mädchen ist nicht nur eine Tragödie, sie kann ebenso gut eine Chance werden."
Das Buch "Die Hälfte des Himmels" ist kein stilistisches Meisterwerk. Es ist eine Streitschrift, faktenreich und weitgehend gut recherchiert. Zentrales Ziel ist es, dem Leser Empathie abzugewinnen. Und das schafft der Text zweifellos! Dennoch: Für die meisten von uns, die wir im 21. Jahrhundert überwiegend modern, fortschrittlich, weitgehend gleichberechtigt in westlichen Industrieländern leben, sind die im Buch geschilderten Probleme ganz weit weg.
Und das ist das Erschütternde. Man sitzt im Sessel, liest, schlägt das Buch am Ende zu, denkt darüber nach, redet vielleicht noch darüber, dann greift man zum nächsten. Die beiden amerikanischen Journalisten halten dagegen. Vom Idealismus getrieben, setzen sie auf Kenntnis und dann auf Erkenntnis und schließlich auf das Engagement der Leser. Um selbst etwas gegen Ungerechtigkeiten tun, bedürfe es nicht einmal mehr als zehn Minuten.
In den beiden letzten Kapiteln ihres Buches schlagen sie beispielsweise vor, dass sich jedermann, jedefrau für bestimmte Initiativen im Internet registrieren könne. Sie empfehlen seriöse Adressen, die sich alle zum Ziel gemacht haben, Frauen in Not zu helfen. Und genau darum muss es gehen: Wir alle müssen unseren Beitrag dazu leisten, Frauen mindestens die Hälfte des Himmels zu verschaffen!
"Im 19. Jahrhundert galt die Sklaverei als die größte moralische Herausforderung. Im 20. Jahrhundert war es der Kampf gegen den Totalitarismus. Wir glauben, in unserem jetzigen Jahrhundert wird es der Kampf für die Gleichheit der Geschlechter in den Entwicklungsländern sein."
Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn: Die Hälfte des Himmels. Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen
C.H. Beck Verlag, München 2010