Warnung vor der Selbstaufgabe des demokratischen Israels
Der Riss, der durch Israel geht, wird immer größer, sagt Gershom Gorenberg. Zeichen dafür sind für den Historiker die religiöse Siedlerbewegung und ihre Verflechtung mit dem militärisch-politischen Apparat im Land sowie eine sich der Moderne verschließende Ultraorthodoxie.
Die Lektüre erweist, dass es durchaus thematische Parallelen zu Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" gibt. Herkunft, Impetus und Tonlage der beiden Autoren unterscheiden sich jedoch. Gorenberg argumentiert persönlich, politisch ausgewogen und moralisch. Auch lassen sich die politischen Verhältnisse Deutschlands nicht auf Israel übertragen. Doch ist es gerade deshalb überraschend, dass auch Gorenberg, wenn er von den Zeichen des Verfalls in seinem Land spricht, auf die demografische Entwicklung zu sprechen kommt: den Geburtenrückgang bei den (säkularen) Israelis, das Anwachsen einer finanziell vom Gemeinwesen abhängigen Bevölkerungsgruppe (der Orthodoxen) sowie die Existenz einer Parallelgesellschaft (der Siedler), deren Tolerierung oder gar Unterstützung durch Politiker (und Militär) ihm als Zeichen der Selbstaufgabe des demokratischen Staates erscheint.
Gorenberg selbst, gebürtiger Amerikaner, ist ein orthodoxer Jude und vor Jahrzehnten in Israel eingewandert. Er fühlt sich dem jüdischen Staat verbunden und verpflichtet. Aus dieser Position heraus, ausgerichtet an den universellen Werten jüdischer Moral, warnt er vor der "fortdauernden Zersetzung" Israels – die für ihn mit dem territorialen Gewinn infolge des "Sechstagekrieges" 1967 begonnen hat. Die junge israelische Demokratie wurde damals zur Besatzungsmacht, die seitdem durch Duldung oder Förderung des Siedlungsbaus in den "verwalteten Territorien" anhaltend gegen internationales und auch eigenes Recht verstößt.
Der Autor unternimmt eine Reise durch Vergangenheit und Gegenwart Israels, um die Problemlage zu veranschaulichen. Er macht sichtbar, dass sie sich bereits bei der Staatsgründung abzeichnete - in den Spannungen zwischen der durch Ben Gurion repräsentierten Zivilregierung und der militant-nationalistischen Gruppe um Menachem Begin: Da gab es einerseits den Versuch, im sogenannten Befreiungskrieg einen ethnisch homogenen Staat zu schaffen, andererseits den Anspruch, diesen liberal und demokratisch auszurichten; und es gab von Anfang an den Widerspruch zwischen einem modernen, aufgeklärten Judentum und - in Reaktion darauf - einer sich der Moderne verschließenden Ultraorthodoxie: Bis heute betreiben religiöse Gemeinschaften in Israel ihr eigenes Schulsystem, das Bildungsansprüchen einer modernen Gesellschaft nicht entspricht, dafür aber Thora-treue Aktivisten erzeugt, die Gottes Wort über säkulares Recht setzen.
Anschaulich sind Gorenbergs Beispiele, denn der Autor recherchiert nicht nur in Archiven und Datenbanken, sondern vor Ort: an Talmudschulen, in Gesprächen mit Studenten vormilitärischer Lehranstalten, in den Siedlungen im besetzten Gebiet, darunter Ofra, 1975 ohne Genehmigung der Regierung errichtet, für Gorenberg "Stein gewordene Gesetzlosigkeit". Heute leben dort über dreitausend Einwohner.
Der Autor zeigt die Entwicklung und verhängnisvolle Verflechtung des religiösen Extremismus mit militantem Nationalismus, den massiven Einfluss eines politisierten Klerus in Israel, dem sich Politiker aller Parteien beugen. Damit sich Israel nicht abschaffe, plädiert er für feste Staatsgrenzen und eine Verfassung; eine klare Trennung von Staat und Religion; für die Trennung des Staates auch von "nationalen Institutionen" wie Jüdischer Nationalfonds, Jewish Agency und Zionistische Weltorganisation, für die Evakuierung der Siedler. Israel, so Gorenberg, müsse endlich realisieren, dass es keine nationale Befreiungsbewegung mehr sei (mit Verherrlichung des Militärischen und der Landnahme), sondern ein liberaler Nationalstaat – in dem kulturelle und ethnische Unterschiede respektiert, eine gemeinsame staatsbürgerliche Identität aber gefördert würde.
Gorenbergs Buch verdeutlicht intensiv die innenpolitische Lage und kollektive Verfassung Israels. Es zeichnet sich durch klare Argumentation, erhellende Hintergrundinformationen und eine konstruktive Vision des Autors für die Zukunft aus. Ob diese gesellschaftlich mehrheitsfähig werden kann, bleibt jedoch fraglich.
Besprochen von Carsten Hueck
Gershom Gorenberg: Israel schafft sich ab
Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2012
316 Seiten, 19,99 Euro
Gorenberg selbst, gebürtiger Amerikaner, ist ein orthodoxer Jude und vor Jahrzehnten in Israel eingewandert. Er fühlt sich dem jüdischen Staat verbunden und verpflichtet. Aus dieser Position heraus, ausgerichtet an den universellen Werten jüdischer Moral, warnt er vor der "fortdauernden Zersetzung" Israels – die für ihn mit dem territorialen Gewinn infolge des "Sechstagekrieges" 1967 begonnen hat. Die junge israelische Demokratie wurde damals zur Besatzungsmacht, die seitdem durch Duldung oder Förderung des Siedlungsbaus in den "verwalteten Territorien" anhaltend gegen internationales und auch eigenes Recht verstößt.
Der Autor unternimmt eine Reise durch Vergangenheit und Gegenwart Israels, um die Problemlage zu veranschaulichen. Er macht sichtbar, dass sie sich bereits bei der Staatsgründung abzeichnete - in den Spannungen zwischen der durch Ben Gurion repräsentierten Zivilregierung und der militant-nationalistischen Gruppe um Menachem Begin: Da gab es einerseits den Versuch, im sogenannten Befreiungskrieg einen ethnisch homogenen Staat zu schaffen, andererseits den Anspruch, diesen liberal und demokratisch auszurichten; und es gab von Anfang an den Widerspruch zwischen einem modernen, aufgeklärten Judentum und - in Reaktion darauf - einer sich der Moderne verschließenden Ultraorthodoxie: Bis heute betreiben religiöse Gemeinschaften in Israel ihr eigenes Schulsystem, das Bildungsansprüchen einer modernen Gesellschaft nicht entspricht, dafür aber Thora-treue Aktivisten erzeugt, die Gottes Wort über säkulares Recht setzen.
Anschaulich sind Gorenbergs Beispiele, denn der Autor recherchiert nicht nur in Archiven und Datenbanken, sondern vor Ort: an Talmudschulen, in Gesprächen mit Studenten vormilitärischer Lehranstalten, in den Siedlungen im besetzten Gebiet, darunter Ofra, 1975 ohne Genehmigung der Regierung errichtet, für Gorenberg "Stein gewordene Gesetzlosigkeit". Heute leben dort über dreitausend Einwohner.
Der Autor zeigt die Entwicklung und verhängnisvolle Verflechtung des religiösen Extremismus mit militantem Nationalismus, den massiven Einfluss eines politisierten Klerus in Israel, dem sich Politiker aller Parteien beugen. Damit sich Israel nicht abschaffe, plädiert er für feste Staatsgrenzen und eine Verfassung; eine klare Trennung von Staat und Religion; für die Trennung des Staates auch von "nationalen Institutionen" wie Jüdischer Nationalfonds, Jewish Agency und Zionistische Weltorganisation, für die Evakuierung der Siedler. Israel, so Gorenberg, müsse endlich realisieren, dass es keine nationale Befreiungsbewegung mehr sei (mit Verherrlichung des Militärischen und der Landnahme), sondern ein liberaler Nationalstaat – in dem kulturelle und ethnische Unterschiede respektiert, eine gemeinsame staatsbürgerliche Identität aber gefördert würde.
Gorenbergs Buch verdeutlicht intensiv die innenpolitische Lage und kollektive Verfassung Israels. Es zeichnet sich durch klare Argumentation, erhellende Hintergrundinformationen und eine konstruktive Vision des Autors für die Zukunft aus. Ob diese gesellschaftlich mehrheitsfähig werden kann, bleibt jedoch fraglich.
Besprochen von Carsten Hueck
Gershom Gorenberg: Israel schafft sich ab
Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2012
316 Seiten, 19,99 Euro