Warum die Politik von den Bürgerprotesten profitiert

Roland Roth im Gespräch mit Britta Bürger |
Der Politologe Roland Roth hat die Bedeutung von Bürgerprotesten in der Finanzkrise hervorgehoben. Denn nur durch diesen Rückhalt könne beispielsweise die Bundesregierung sich für eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte einsetzen. Allerdings müsse irgendwann aus dem reinen Protest sich eine soziale Bewegung bilden, die eine Agenda zur Lösung der Probleme entwickelt.
Britta Bürger: Los ging es in Spanien und Griechenland, dann folgten die Proteste an der New Yorker Wall Street, und am letzten Wochenende sind die Funken der Real-Democracy-Bewegung auf insgesamt 80 Länder übergesprungen. Auch in Deutschland haben tausende Menschen für mehr echte Demokratie demonstriert. Sie kritisieren, dass sich die Politik zunehmend von den Interessen der Bürger entferne und immer stärker den Interessen der Finanzmärkten anpasse.

Nachdem wir gestern hier im "Radiofeuilleton" mit dem Journalisten Laszlo Trankovits gesprochen haben, der sich von den sogenannten Wutbürgern mehr Vertrauen in die Politik wünscht, interessiert uns heute die Position des Politikwissenschaftlers Roland Roth. Er hat gerade eine Streitschrift für mehr Partizipation veröffentlicht. Guten Morgen, Herr Roth!

Roland Roth: Ich grüße Sie, Frau Bürger!

Bürger: Die derzeit neu entstehende Protestbewegung drückt ja in vielen Ländern der Welt aus, dass die Bürger das Vertrauen in die Akteure der Politik verloren haben. Halten Sie das für gerechtfertigt? Immerhin sind es ja unsere gewählten Vertreter.

Roth: Wissenschaftlich können wir seit 30 Jahren beobachten, dass das Vertrauen in gewählte Repräsentanten in allen westlichen Demokratien zurückgegangen ist und Bürger kritischer geworden sind, das heißt, sie wollen mehr mitbestimmen, mehr sagen, und eben nicht diesen alten Tausch zwischen "wir wählen euch für fünf Jahre, dafür akzeptieren wir eure Entscheidungen" länger hinnehmen, denn sie haben den Eindruck, dass die Ergebnisse dieser Entscheidungen nicht unbedingt zu ihrem Vorteil sind. Also selbst wenn jetzt ein XXL-Aufschwung verkündet wird in Deutschland, haben sie den Eindruck, na, es gibt doch große Teile der Bevölkerung, die davon nicht profitieren, und diesen Eindruck, dass dieser alte Tausch – ihr entscheidet für uns und uns geht es besser –, dass der schon lange nicht mehr funktioniert.

Dazu kommt, dass eben heute zehn Mal mehr junge Menschen etwa in der Hochschulbildung unterwegs sind. Zu meiner Zeit waren es 4, 5 Prozent, heute sind es 46 Prozent, die tertiäre Bildungsgänge mitmachen, das heißt, sie haben auch mehr Kompetenzen, mehr Wissen und mehr Gelegenheiten. Dazu hat natürlich auch das Internet sehr beigetragen, das schneller Austausch möglich ist. Also die Bürger sind informierter, interessierter, zumindest dann, wenn sie unmittelbar davon betroffen sind, und sie wollen dann eben doch auch sich zu Wort melden und eine Chance haben, mitzureden.

Bürger: Der Journalist Laszlo Trankovits, den wir gestern hier interviewt haben, der fordert im Grunde auch die Beteiligung der Bürger, allerdings eben in der Weise, dass sie die Politiker einfach in Ruhe das ausführen lassen sollten, wofür sie gewählt worden sind, und sich innerhalb der politischen Institutionen engagieren sollen, die Bürger. Hören wir uns seine Meinung noch mal an:

Laszlo Trankovits: "Ich glaube, dass die Politiker Verantwortung übernehmen müssen, sollen, das ist der Kern der repräsentativen Demokratie, dass wir sie wählen, und sie sollen dann zeigen, dass sie es können, und uns Probleme lösen und Konzepte verwirklichen. Und dann belohnen oder bestrafen wir sie: Wenn sie gut waren, dann wählen wir sie wieder, und wenn sie schlecht waren, lehnen wir sie ab. So funktioniert Demokratie und ich glaube, nur so funktioniert Demokratie. Stellen Sie sich mal vor, jeden Morgen würden die Bürger darüber abstimmen, wie eine Reform auszusehen hat, was wir in Afghanistan machen oder wie sich die Bundesregierung bei der Euro-Krise verhalten soll. Das wäre das Chaos. Das wäre so ähnlich, als wenn bei den Fußballvereinen an jedem Samstag im Stadion die Fans abstimmen würden, wie die Mannschaft auszusehen hat, die da aufläuft."

Bürger: Das hat der Journalist Laszlo Trankovits gestern bei uns hier im Programm gesagt. Seiner Meinung nach stört das permanente Mitbestimmen-Wollen eine effektive Politik. Wie sehen Sie das, Herr Roth?

Roth: Das ist politische Nostalgie. Man möchte sich zurück in die 50er- und 60er-Jahre bewegen und dann diese alten Verhältnisse wieder entstehen lassen. Auch die Aufforderung "Habt mehr Vertrauen!" ist natürlich paradox, kommt ja immer dann, wenn das Vertrauen geschwunden ist und es dafür gute Anlässe gab.

Wenn Sie einmal die Berichterstattung und die Auseinandersetzung und die Proteste des letzten Samstag sehen, dann hat man eher das Gefühl, dass sich Politik wünscht, dass noch mehr Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gehen, damit es überhaupt genug Schub und Macht hat, in den internationalen Organisationen sich für eine Regulierung der Finanzmärkte stark zu machen, also man erwartet die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger.

Und auch in den Medien ist es doch eher so, dass die Proteste hochgeschrieben wurden, das heißt, die kleine Zahl hätte auch die Möglichkeit geboten, zu sagen, das sind ja so wenige, aber es wurde ja gerade in den Medien auch betont, das ist eine wunderbare Bewegung und sie bringt breite gesellschaftliche Ängste zum Ausdruck, und wir erwarten uns von diesem Schub der Bürgerproteste doch auch einiges.

Bürger: Heißt das, wenn die Kanzlerin sagt, sie freut sich über diese Proteste – Sie nehmen ihr das ab?

Roth: In dem Sinne, dass sie hofft, dass ihre Verhandlungsposition beim nächsten G-8-Gipfel vielleicht etwas besser ist, wenn es um die Einführung der Tobin Tax, also der Transaktionssteuer geht.

Bürger: Das heißt, Politiker profitieren unter Umständen von dem, was sich da auf der Straße abspielt?

Roth: Das versuchen sie immer, auch wenn sich die Proteste nicht unerheblich gegen ihr eigenes Handeln richten, wie das etwa im Zusammenhang mit der Finanzkrise ist beziehungsweise der permanenten Krise seit 2008, was die globale Finanzmarktsituation angeht.

Bürger: Sie bezeichnen, Herr Roth, die Proteste in Ihrem Buch ja auch als Ausdruck von Bürgermacht. Worin besteht genau diese Macht?

Roth: Sie besteht zunächst einmal im Nein-Sagen, sozusagen dass Bürger deutlich machen: Wir nehmen diesen Gang der Ereignisse nicht hin, wir akzeptieren nicht, so wie ihr regiert, oder reagiert und regiert, sondern wir wollen andere Alternativen auf dem Tisch haben. Und das beste Beispiel in der Bundesrepublik ist ja Stuttgart 21 in jüngster Zeit gewesen, wo dann eben durch einen intensiven Bürgerprotest nicht nur Nein gesagt wurde, sondern auch ein Alternativkonzept für dieses Bahnhofsproblem vorgelegt wurde, das in den Schlichtungsverhandlungen, den sogenannten, mit Herrn Geißler dann auch öffentliche Anerkennung fand in dem Sinne: Das sind intellektuell hoch gebildete, versierte Bürgerinnen und Bürger, die gute Vorschläge machen. Wir erleben dies augenblicklich eher in Protesten als in Beteiligungsformen, die regelmäßig Bürgerinnen und Bürgern bei den Entscheidungen, die für sie wichtig sind, Mitsprache ermöglichen und ihnen Einfluss geben.

Bürger: In Spanien, Griechenland und den USA, da sehen wir, wie alle Bevölkerungsschichten auf die Straßen gehen, weil die Krise auch längst alle Teile der Gesellschaft erreicht hat. Wie ist das in Deutschland, wer protestiert hier? Sie haben eben gesagt, zum einen sind das jetzt auch die besser Gebildeten.

Roth: Das ist ja immer der Fall, also die am meisten Betroffenen sind meist so entmutigt und demotiviert und zurückgesetzt, dass sie gar nicht auf die Straße gehen. Also Proteste sind immer eine Angelegenheit von Menschen, die auch positive Erwartungen, die sozusagen Selbstvertrauen haben. Und in der Bundesrepublik haben wir ja die Situation, dass die Auswirkungen der großen Finanzkrisen der letzten Jahre noch relativ gedämpft sind und sich scheibchenweise nur darstellen, sodass also eine große Ausgrenzung, wie wir sie etwa von Jugendlichen in den USA oder in Spanien haben – dass eben 40 Prozent einer Generation, selbst wenn sie Hochschulabschlüsse haben, keinen Arbeitsplatz finden –, das ist gegenwärtig in der Bundesrepublik nicht der Fall.

Und von daher ist das Protestpotenzial der Betroffenheit, der unmittelbaren Betroffenheit noch gering, aber es gibt natürlich sehr viele Bürgerinnen und Bürger quer durch alle Schichten, die Angst haben vor der weiteren Entwicklung, vor der Entwertung des Euros, vor der Entwertung ihrer Sparguthaben, ihrer Riester-Rente oder anderer Dinge, denen das Ganze unheimlich ist, was da passiert, dass eben in lockerer Folge Krisen erscheinen, die als gelöst galten und wo uns die Politik jede Woche etwas anderes erzählt.

Bürger: Die Protestierenden eint also ein allgemeines Unbehagen, doch was kann durch die Demonstration dieses Unbehagens denn tatsächlich verändert werden?

Roth: Es kann zu einer sozialen Bewegung werden, die ja immer dann entsteht, wenn aus Protesten nicht nur Widerstand und Widerspruch erscheint, sondern eben auch Alternativen entwickelt wurden. Nehmen wir zum Beispiel die Finanztransaktionssteuer, die Tobin Tax: Sie war ja eine der Hauptforderungen der Proteste, schon vor 10, 15 Jahren, die mit dem Namen Attac etwa verbunden sind und bei allen Globalisierungsgipfeln – G 8, IWF, Weltbankgipfeln und so weiter – vorgetragen wurden. Das heißt: Bewegung wird es dann und die Möglichkeiten werden dann besser, wenn auch konkreter eine Agenda entwickelt wird zur Lösung von Finanzkrise und anderen Dingen.

Und da arbeiten sehr viele dran, und das ist eigentlich das, worin sich Bürgermacht dann auch darstellt, nicht nur im Nein-Sagen, sondern in den besseren Vorschlägen, Innovationen. Ich will Ihnen nur ein Beispiel geben, wie sich das historisch darstellt: Wenn in der Bundesrepublik nicht diese massiven Anti-AKW-Proteste in den 70er-Jahren, 80er-Jahren stattgefunden hätten, hätten wir heute keine regenerative Energiebranche, die eine der Leitbranchen gerade in den neuen Bundesländern geworden ist.

Das heißt, das Nein-Sagen eröffnet andere Möglichkeiten und schafft möglicherweise auch die besseren Lösungen. Die Frage ist, ob Politik bereit ist, diesen Prozess des Suchens mit den Bürgern gemeinsam überhaupt zuzulassen, und da ist nun das, was der Kollege vorgeschlagen hat, man möge Vertrauen haben, das Gegenteil von dem, was wir zurzeit brauchen.

Bürger: Viele derjenigen, die derzeit in Deutschland demonstrieren, die fühlen sich ja Parteien nahe, die auch eben aus Protestbewegungen entstanden sind, die Grünen ebenso wie die Piratenpartei, und doch scheint es auch in diesem Milieu Unzufriedenheit darüber zu geben, dass der Einfluss dieser Parteien nicht stark genug ist. Besinnen sich auch deshalb wieder mehr Leute auf außerparlamentarische Oppositionsgruppen wie zum Beispiel Attac, die ja im Moment wieder großen Zulauf bekommen?

Roth: Das Phänomen Piratenpartei ist ja sehr interessant, und es ist ja eine Serie von Parteineugründungen, die wir in den letzten 25 Jahren erlebt haben, erst die Grünen, dann die Linkspartei und jetzt die Piraten. Das ist schon eine Innovationskraft in dem Sinne, dass Themen, die vorher aus der politischen Landschaft eigentlich verbannt waren, im Parlament kaum vorkamen, dann eben auch im Parlament wahrgenommen werden. Das ist zumindest ein Verdienst dieser Parteien, das hoch anzurechnen ist, also es öffnet die politische Agenda für Protestthemen.

Aber gleichzeitig ist es so, dass es ja immer Minderheiten sind, die keinen unmittelbaren Einfluss gewinnen, und sie brauchen ganz dringend eben den Straßenprotest aber auch andere Formen der Beteiligung, für die ich sehr plädiere und die auch weltweit gesucht werden, um eine andere Politik zu ermöglichen und die Kluft zwischen Repräsentanten und Bürgerinnen und Bürgern zu reduzieren.

Bürger: Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung fordert der Politikwissenschaftler Roland Roth. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Roth!

Roth: Ich danke Ihnen, Frau Bürger!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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