Warum ein Kaugummi mehr verrät als tausende E-Mails

Von Udo Pollmer |
Was erzählt uns ein Kaugummi, den jemand ausgespuckt hat? Außerordentlich viel: Eine Kunststudentin entlockte ausgespuckten Kaugummis via Gen-Analyse Informationen über denjenigen, der ihn im Mund hatte. So ein Kaugummi ist informativer als das Lauschprogramm PRISM.
Kaugummis können Geschichten erzählen, Geschichten über Menschen, die sie im Mund hatten. Das nahm eine New Yorker Kunststudentin zum Anlass, einen Drei-Wochen-Kurs in Genanalyse zu belegen. Mit diesem Wissen extrahierte sie dann aus Kaugummis, die auf der Straße lagen, die DNA und analysierte jene Genabschnitte, die das Gesicht eines Menschen charakterisieren. Was vor wenigen Jahren noch nobelpreisverdächtig war, ist heute nicht anspruchsvoller als ein Sprachkurs. Die Daten ihrer DNA–Analyse wandelte ein Computerprogramm in lebensechte 3D-Modelle des Kopfes um.

Die Aufregung danach war groß. Denn mit den gleichen einfachen Mitteln lassen sich auch andere Abschnitte des Genoms von Passanten untersuchen – Abschnitte, die Informationen liefern, die niemanden etwas angehen. Auf Schritt und Tritt verlieren wir biologisches Material, das unsere Identität preisgibt: Haare, ein Lippenabdruck am achtlos weggeworfenen Kaffeebecher oder der Haltegriff im Bus. Immer bleibt etwas hängen. Das Material ist frei zugänglich – in der Kneipe, am Arbeitsplatz, oder in der U-Bahn.

So lässt sich vieles über einen Menschen in Erfahrung bringen, neben seiner Hautfarbe auch sein Risiko für Krebs, Diabetes oder Übergewicht – oder was immer Sie wissen wollen. Ein alter Kaugummi liefert mehr persönliche Daten, als eine Krankenkasse über ihre Kunden gespeichert hat. Diese Gen-Daten kann sich jeder verschaffen, den sie interessieren. Gegen die DNA-Analyse ist das amerikanische Spähprogramm PRISM eine schlappe Sache. Denn das, was Menschen einander mailen, entspricht nicht unbedingt der Wahrheit – und ist deshalb nur von begrenztem Wert. Anders bei der DNA. Ein alter Kaugummi verrät mehr als Tausende von E-Mails.

Wenn die Erbkrankheit zum Lebensretter wird
Wer sich dazu entschließt, das eigene Genom auf "Defekte" checken zu lassen – weil er glaubt, so Gesundheitsinfos über sich und seinen potentiellen Nachwuchs zu erhalten, - erhält meist beängstigende Hinweise auf Krankheitsrisiken. Die Zahl bekannter und weit verbreiteter "Gendefekte" ist bereits ins Uferlose gewachsen. Doch ob etwas tatsächlich ein "Defekt" ist oder nicht, hängt von den Umweltbedingungen ab. Bis etwa 1920 lebten Menschen mit erblich bedingtem, hohem Cholesterin länger als solche mit "normalem" Cholesterin. Der Grund: Cholesterin schützt vor Infekten. Und Infekte waren damals die wichtigste Todesursache. Dieser Schutz verlor an Bedeutung, als man begann, die Kanalisation zu bauen, als die zentrale Trinkwasserversorgung kam und die Veterinärkontrolle. Mit der aufkommenden Hygiene schmolz der Vorteil des hohen Cholesterins dahin.

Ohne Erbkrankheiten könnte die Menschheit weite Teile dieser Erde nicht besiedeln. Dort wo der Erreger der Malaria herrscht, würden Menschen mit "gesundem" Erbgut auf Dauer nicht überleben. Gleich mehrere Gendefekte halten den Erreger in Schach, der bekannteste ist die Sichelzellanämie. Bei uns gilt sie als schwere Erbkrankheit – in Malariagebieten ist dieser Defekt eine Lebensversicherung. Ein anderes Gen prädestiniert für Diabetes. Dieses ist vor allem in Regionen verbreitet, in denen es regelmäßig Hungersnöte gab. Das Diabetes-Gen sorgt für eine bessere Futterverwertung – der Preis für das Überleben in mageren Zeiten ist dann der Diabetes mit 50. Aber dieses Alter reicht, um auch karge Gebiete wie Atolle erfolgreich besiedeln zu können.

Die meisten "Erbkrankheiten" haben einen biologischen Sinn, sonst wären sie im Laufe der Evolution längst verschwunden. Wer sie bekämpft, dezimiert die biologische Vielfalt der Menschheit, die sie zum Überleben braucht. Der Umstand, dass sich heute das Genom mit einfachen Mitteln analysieren lässt, hat etwas Verführerisches. Es liefert eine Fülle von Informationen, die dem Missbrauch Tür und Tor öffnen – egal ob es um Angst vor Krankheit, um Heilungsversprechen oder Informationen geht, mit dem man andere Menschen unter Druck setzen kann. Im Vergleich dazu ist die Frage, ob der Mais in der Polenta genverändert war, vollkommen belanglos. Mahlzeit!
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