Warum freundliche Menschen besser leben

Freundlichkeit – im Sinne von Empathie und Entgegenkommen, von Zuvorkommenheit und Zuwendung – gilt gemäß dem Credo der kapitalistischen Gegenwart als Tugend der Versager. Denn Einfühlung schwächt: Es bleibt als Tropf auf der Strecke, wer sich nicht der Selbstsucht verschreibt.
Doch ausgerechnet die Freundlichkeit, die nicht zu passen scheint in ein Leben, das von Konkurrenz und Geschwindigkeit, von Egoismus und Profitsucht geprägt ist, kann zum Quell des Wohlbefindens werden. Man tut sich keinen Gefallen, wenn man die eigene Freundlichkeit verschmäht. Denn sie macht uns glücklich, vermittelt uns ein Identitätsgefühl, verhilft uns, einen Sinn zu finden im oft so sinnleeren Dasein.

Welch ein Paradoxon: Genau das, was uns labt, haben wir gelernt zu verachten. "Das ist nicht mein Problem", rufen wir hinaus in die Welt – als könnte die Abgrenzung von anderen uns helfen, ins Glücksland der Sorglosigkeit einzuschweben.

Freundlichkeit, so schreiben der Psychoanalytiker Adam Phillips und die Historikerin Barbara Taylor in ihrem Büchlein zum Thema, sei eine in der Moderne unterdrückte Leidenschaft des Menschen.

Der Mangel ist offenbar. In manchen Lebensbereichen versucht man inzwischen künstlich herzustellen, was menschlich verloren ging. So werden Angestellte von Call Centern in Sachen Einfühlsamkeit trainiert, wird in großen Unternehmen die Empathie-Kompetenz von Managern getestet und mit Krankenschwestern herzliches Lächeln geübt.

Phillips und Taylor beschreiben aber nicht nur den irregeleiteten Furor der Moderne, sondern erzählen kompetent, knapp und sachkundig, wie es zu dem Debakel kommen konnte. Wie die Freundlichkeit sich im Laufe der Zeit mit dem jeweiligen Menschenbild wandelte.

War in der Antike die Freundlichkeit eine dem Menschen innewohnende Haltung, die ihn erst zum sozialen Wesen machte, wurde sie im Christentum zur Pflicht erklärt, zur gottgefälligen Selbstaufopferung. Caritas als Aufgabe, nicht Freundlichkeit aus freudvoller Hingabe.

Immer stritt man sich um den Menschen in seiner genetischen und psychischen Grundausstattung. Während die einen mit Thomas Hobbes an die dem Menschen angeborene ungehemmte Ich-Sucht glaubten, folgten die anderen dem großen Fürsprecher der Freundlichkeit, Jean-Jacques Rousseau, der das Mitgefühl als menschlichen Urinstinkt ausmachte – und daher nicht den Menschen als verdorben, sondern die Gesellschaft als verderblich ansah.

Mit dem Aufkommen der Psychoanalyse geriet die Freundlichkeit gar zum Störenfried. Denn in Freuds Dualität des Lebens- und des Todestriebs hatte der Freundlichkeitstrieb keinen Platz. Im Gegenteil. Sexueller Genuss ist laut Freud eine unbarmherzige Angelegenheit: Freundlichkeit würde das Begehren und seine Befriedung unterminieren.

Adam Philipps' und Barbara Taylors Büchlein ist schmal, aber keine ganz leichte Lektüre. Weil die Autoren in ihren Überblickskapiteln die Kunst des Auslassens vernachlässigt haben. Dennoch ist der Band so lehrreich wie spannend. Und er macht Mut, sich der kulturellen Verelendung unserer Gesellschaft zu widersetzen – eben durch Freundlichkeit.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Adam Phillips und Barbara Taylor:
Freundlichkeit. Diskrete Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Tugend

Aus dem Englischen von Susanne Held
Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2010, 165 Seiten, 16,90 Euro