Warum rennen sie so schnell?
Kaum ein Marathonlauf, bei dem sie nicht auf dem Siegertreppchen stehen: Die kenianischen Läufer und Läuferinnen gelten als fast unbezwingbar auf langen Strecken. Auch bei den bevorstehenden Olympischen Spielen in London räumen sie vermutlich wieder viele Medaillen ab.
Sechs Läufer. Sie sind anderthalb Stunden durchs Gelände gerannt. Dabei immer wieder Schafherden und großen Pfützen ausgewichen. Sie haben sich angestrengt, um eine gute Leistung zu zeigen. Alles in einer Höhenlage von mehr als 2000 Metern. Doch das war ein Spaziergang, gegen das was jetzt kommt. Auf der Stelle laufen und dabei immer wieder die Knie anziehen.
"Wir machen das 45 Sekunden lang. Dann gibt's eine Pause von 30 Sekunden. Das Ganze acht Mal."
Trainer Joseph Ngure sieht mit seinem kleinen Bauch, über dem das Poloshirt spannt, eher gemütlich aus. Aber er ist unerbittlich.
Die sich hier quälen sind Kenias Eliteläufer. Oder zumindest sollen sie es werden. Sie gelten als so talentiert, dass sie einen Platz im "High Performance Training Centre" haben. Einer Laufschule in Eldoret, die vom mehrmaligen Olympiasieger Kipchoge Keino gegründet wurde. Der Mann ist in Kenia eine Legende. In den 60er-Jahren lief er über 3000 und 5000 Meter die ersten Weltrekorde eines afrikanischen Landes überhaupt.
Das Zentrum hat den Charme einer Jugendherberge. Lange, dunkle Flure. Überall Regale mit dreckigen Laufschuhen. Im Aufenthaltsraum stehen durchgesessene Sofas um einen Tisch. Doch an den Wänden blitzt und blinkt es. Medaillen, Vitrinen mit Pokalen. Dazwischen Zeitungsartikel über die vielen erfolgreichen Absolventen. Die Laufschule – allgemein "Kipkeino Centre" genannt – wird jetzt vom Sohn des Olympiasiegers geleitet. Sein Konzept ist einfach:
"Laufen ist im Kopf. Wenn man gut laufen will, muss man sich im Kopf trainieren."
Ian Keino zieht ein Bein etwas nach – eine Sportlerkarriere kam für ihn nicht in Frage. Er lernte Hotelkaufmann in Frankfurt und arbeitete dort einige Jahre. Dann kam er zurück nach Kenia und baute das Zentrum auf. Läuferinnen und Läufer trainieren in Eldoret für Olympia und andere Wettbewerbe. Die meisten sind um die 20 Jahre alt. Wenn sie es schaffen wollen, brauchen sie doppelt Ausdauer.
"Das ist viel, viel Arbeit. Also die meisten, bis die in die Hochleistung kommen, es dauert mindestens zwei Jahre. Und das ist zwei Jahre sehr, sehr hart trainieren."
Als der Vater von Ian Keino seine Läuferkarriere startete, gab es noch keine Trainingszentren in Kenia. Er musste sich alles noch ganz allein erarbeiten. Einer der größten Erfolge von Kipchoge Keino war der Sieg im 1500-Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko. Er gewann, obwohl er es fast nicht rechtzeitig zum Start geschafft hätte:
"Fünf Kilometer vorm Stadion da war ein Stau. Und da ist er ausgestiegen vom Bus. Und gelaufen. Weil, er hätte sonst den Lauf verpasst. Und er hat dann die Goldmedaille gewonnen. Es war seine erste Goldmedaille"
Die Geschichte erzählt Ian Keino jungen Läufern immer wieder. Denn sie zeigt seiner Meinung, was wichtiger als alle Trainingskonzepte der Welt ist: Der unbedingte Wille zu laufen. Ist es vielleicht auch diese Einstellung, die Kenias Läufer zur Weltspitze macht? Bei so gut wie allen internationalen Laufwettbewerben dominieren auf den Mittel- und Langstrecken die Athleten aus dem kenianischen Hochland. Wunderläufer werden sie genannt. Doch was ist das Wunder?
"Welcome to Eldoret – Home of Champions” ist auf eine Mauer am Ortseingang gepinselt. Daneben sind die Helden der Region in Überlebensgröße gemalt. Eine lange Wand mit Olympiasiegern, Marathon-Läufern, Weltrekordlern. Die Stadt ist mit gut 100.000 Einwohnern immerhin die fünftgrößte in Kenia, sieht in weiten Teilen aber noch sehr dörflich aus. Kleine Läden mit bunt bemalten Fassaden. Frauen sitzen an den Straßen und verkaufen geröstete Maiskolben. Eldoret hat eigentlich wenig zu bieten – doch die Läuferlegenden haben die Stadt international bekannt gemacht. George Obumba ist der Sportbeauftragte:
"Annähernd 78 Prozent der Athleten in Kenia kommen aus dem Hochland. Hier sind die Trainingsbedingungen gut und die Läufer bekommen viel Unterstützung."
Das Hochland gilt zwar als der Brotkorb Kenias, weil der Mais auf den Feldern hier gut wächst. Aber reich wird durch die Landwirtschaft kaum jemand.
"Jeder sucht nach Wegen, um der Armut zu entkommen. Die Wirtschaft hier liegt am Boden. Die Kaufkraft ist niedrig."
Doch dann sind da die Läufer, die mit Preisgeldern von einer Million Dollar zurückkommen. Sie bauen schicke Häuser, fahren mit dicken Autos durch die Stadt.
"Du bist umgeben von erfolgreichen Athleten, die ein gutes Leben führen. Sie machen viel Geld. So eine Umgebung spornt viele an."
Anderswo träumen kleine Jungs davon, Fußballstars zu werden. Hier eifern sie nicht Cristiano Ronaldo, sondern Kipchoge Keino nach.
"Jedes Kind hier würde gern ein Athlet sein und Erfolg haben. Sie sehen, was für ein großer Wandel mit so einer Karriere kommt. Das wollen sie auch erreichen.".
Joseph läuft. So wie eigentlich immer. Der 12-Jährige ist meist schnell unterwegs:
"Ich renne auf dem Schulweg, ich gehe nicht."
Eine Stunde und zehn Minuten braucht er bis zur Schule. Wie viele Kilometer der Weg lang ist, weiß er nicht. An manchen Tagen läuft er ihn viermal – wenn er vor dem Nachmittagsunterricht noch mal nach Hause zurückkommt. Er absolviert so locker das Pensum eines engagierten Langstreckenläufers – wie so viele Kinder in Kenias Hochland, ganz nebenbei, auf dem Schulweg. Der Tag beginnt für Joseph früh:
"Um fünf Uhr morgens. Ich bereite das Frühstück vor und dann gehe ich um sechs zur Schule."
Der schmächtige Junge trägt jetzt Gummistiefel, eine quietschbunte Hose und einen alten Fliespulli. Das ist seine Nachmittags-Kleidung. Für die Schule hat er eine Uniform. Zu der gehört auch ein altes Paar Lederschuhe. Die Sohle hat sich teilweise abgelöst. Im rechten Schuh ist vorne ein Loch. Mit diesen Tretern macht Joseph täglich seine Kilometer.
Das Training zahlt sich aus: Bei Schulwettbewerben hat der 12-Jährige schon ein paar Mal gewonnen. Seine Lehrer machen ihm Mut, dass es mit der Läuferkarriere klappen könnte.
"Ich bin sehr froh, dass ich dieses Talent habe."
Der Traum der Kinder in Eldoret. Laufen, Geld verdienen, sich selbst und die Familie aus der Armut holen. Für einige wird dieser Traum wahr.
Mary Keitany öffnet das Tor vor ihrem Grundstück, um zum Training zu starten. Sie ist Marathonläuferin. Alle Strecken unter zehn Kilometern sind für sie leichtes Jogging.
Es geht einen Waldweg entlang. Morgens hatte es geregnet, doch jetzt ist die Sonne rausgekommen und die meisten Pfützen sind wieder verschwunden. In der Regenzeit zwischen April und Juni müssen die Läufer ihren Trainingsplan oft nach dem Wetter ausrichten. Wenn es auf Olympia zugeht, ist das nicht so optimal.
"Ich trainiere jetzt, um Gold für mein Land zu holen."
Mary Keitany hat in London schon häufiger gewonnen. In diesem Jahr und im Jahr davor war sie die schnellste beim Marathon.
"'"Natürlich mag ich London. Insgesamt war ich dreimal da und bin immer eine gute Zeit gelaufen. Und auch die Stadt ist sehr schön.""
Nach dem Training gibt es bei ihr ein Ritual.
Mary legt im Videorecorder die Kassette mit ihrem London-Sieg aus diesem Jahr ein.
Die vier nächsten, die ins Ziel liefen, waren ebenfalls Kenianerinnen. Bei den Männern gewann ein guter Bekannter von Mary, Wilson Kipsang, vor einem weiteren Landsmann. Ein Sieg auf der ganzen Linie. Auch deshalb spielt Mary das Video so oft:
"Ich gucke es einfach gern. Ich mag es, wie ich gelaufen bin. Und wie ich gewonnen habe."
Die Läuferin ist ein zartes Persönchen. Nicht mal 1,60 Meter groß und ein Fliegengewicht. Aber sie ist zäh. Als sie Schülerin war, sah sie die damals erfolgreichen kenianischen Läuferinnen. Auch sie war eins der Kinder, die von Medaillen träumen.
"Wenn ich ferngesehen habe oder eine Zeitung gelesen habe, tauchten da immer die berühmten Namen auf. Also habe ich angefangen zu trainieren, um eines Tages so wie sie zu sein."
Mary hat es geschafft. Mit ihren Preisgeldern konnte sie ein Haus bauen. In der Einfahrt steht ein neuer Geländewagen.
Gleichwohl laufen Hühner durch den Hof. Marys kleiner Sohn spielt barfuß mit seinem Cousin. Die Läuferin ist trotz der Erfolge auf dem Teppich geblieben. Glanz und Glamour sind nicht ihre Welt. Als ihr nach dem gewonnenen London-Marathon Prinz Harry die Medaille umhängte, hatte sie keine Ahnung, wer er ist:
""Ich wusste nicht, dass er der Prinz ist. Aber als ich das dann erfahren habe, war ich glücklich. Er hat auch meinem Sohn die Hand geschüttelt. Daran werde ich mich immer erinnern."
Die 30-Jährige ist mit einem Läufer-Kollegen verheiratet. Charles Koech hat selbst einiges gewonnen, bevor er wegen einer Verletzung seine Karriere aufgeben musste. Jetzt unterstützt er seine Frau. Und hofft natürlich auch auf eine Medaille für sie bei den Olympischen Spielen.
"'"Ich glaube, es ist schwer, eine Vorhersage für London zu treffen. Alle guten Läuferinnen werden da sein. Einige haben am London-Marathon nicht teilgenommen, weil sie sich schon auf Olympia vorbereitet haben. Wir wissen nicht, in welcher Form sie sind.""
Ob Mary ihren dreijährigen Sohn wieder mitnimmt, weiß sie noch nicht. Aber zur Sicherheit wird er auch vom Papa trainiert – damit er richtig anfeuern kann. "Twende London" – "Auf geht's nach London".
Beim letzten Zieleinlauf vor dem Buckingham Palast hat der Kleine fleißig gejubelt und geklatscht. Bald könnte er seine Mama auch bei Olympia zum Sieg tragen.
Eine Familie, die Rückhalt gibt. Der Traum vom Siegen von Kindesbeinen an. So einfach kann das Geheimnis der kenianischen Wunderläufer nicht sein. Die Spurensuche geht im Kipkeino Zentrum weiter.
Zum Essen kommt hier Ugali, der typisch kenianische Maisbrei auf den Tisch. Dazu Fleisch und ein wenig Gemüse. Morgens gibt es süßen Tee, Weißbrot und Marmelade. Manche würde das sogar als ungesunde Ernährung bezeichnen. Aber die beiden Trainer hier finden: Ugali ist wirksamer als Doping.
"Manche Sportler kommen hierher und fragen nach Präparaten. Aber wir setzen so etwas überhaupt nicht ein. Alles, was die Athleten brauchen, bekommen sie mit dem Essen. Ugali, Gemüse, Reis, Nudeln – was sie wollen."
Jimmy Simba Beauttah hat einen Namen in der internationalen Laufszene. Er hat viele Olympiasieger an den Start gebracht. Dabei hält er nichts von modernen Trainingsmethoden. Von Laufbändern und Pulsuhren. Simba, wie er genannt wird, braucht nichts als eine Trillerpfeife und eine Stoppuhr. Die Athleten sollen im Gelände rennen und sich dabei nur auf ihren eigenen Rhythmus konzentrieren:
"Alles ganz natürlich. Wir haben die Straßen. Wir haben Abhänge und wir haben Steigungen. Was wollen wir mehr? Und du hast deinen Körper."
Sein Kollege Joseph Ngure sieht das ähnlich. Die beiden Trainer sind für die jungen Läufer oft noch Elternersatz. Sie holen sie wieder auf den Boden zurück, wenn sie nach ersten Erfolgen abzuheben drohen. Denn für einige gute Athleten war die Läuferkarriere ein Irrweg, meint Joseph:
"Manche verdienen wenig, sichern sich aber trotzdem ein gutes Auskommen, weil sie klug investieren. Andere machen das große Geld, aber sie landen wieder ganz unten. Es hängt davon ab, was sie selbst daraus machen."
Wenn einer das Geheimnis der Wunderläufer kennen müsste, dann diese beiden Erfolgstrainer. Doch über die Frage danach können sie nur lachen.
"Es gibt kein Geheimnis. Man muss früh anfangen. Sich Ziele setzen und trainieren. Das Wichtigste aber ist der Wille: Wenn man den hat, kann der Körper nachziehen."
Laufen passiert im Kopf. Aber um das Training kommen die Athleten trotzdem nicht herum.
Simba und Jonathan Ngure scheuchen ihre Zöglinge wieder durchs Gelände. Ein Ähnliches Programm wie am Vortag.
"'"Heute starten wir von hier zu unserem langen Lauf. Die Gruppe läuft Richtung Norden – bis die Zeit, die ich ihnen vorgebe, vorbei ist. Sie bleiben alle zusammen, auch wenn sie für unterschiedliche Distanzen trainieren. Anschließend gebe ich ihnen dann noch ein paar Übungen.""
Eins der vielversprechenden Talente heißt Hillary Maiyo. Er ist 18 Jahre alt und amtierender Afrika Junior Champion über 1500 Meter:
"Mein großer Traum ist, dass ich eines Tages bei Olympia gewinne. Wenn nicht über 1500 Meter, dann vielleicht über 5000. Oder ich laufe sogar Marathon. Ich will unter den Top-Athleten sein."
In diesem Jahr ist er noch nicht bei Olympia dabei. Aber vielleicht ja 2016.
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Mein Olympiafavorit für London 2012 - Korrespondenten stellen außergewöhnliche Sportler vor, (DKultur, Ortszeit)
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"Wir machen das 45 Sekunden lang. Dann gibt's eine Pause von 30 Sekunden. Das Ganze acht Mal."
Trainer Joseph Ngure sieht mit seinem kleinen Bauch, über dem das Poloshirt spannt, eher gemütlich aus. Aber er ist unerbittlich.
Die sich hier quälen sind Kenias Eliteläufer. Oder zumindest sollen sie es werden. Sie gelten als so talentiert, dass sie einen Platz im "High Performance Training Centre" haben. Einer Laufschule in Eldoret, die vom mehrmaligen Olympiasieger Kipchoge Keino gegründet wurde. Der Mann ist in Kenia eine Legende. In den 60er-Jahren lief er über 3000 und 5000 Meter die ersten Weltrekorde eines afrikanischen Landes überhaupt.
Das Zentrum hat den Charme einer Jugendherberge. Lange, dunkle Flure. Überall Regale mit dreckigen Laufschuhen. Im Aufenthaltsraum stehen durchgesessene Sofas um einen Tisch. Doch an den Wänden blitzt und blinkt es. Medaillen, Vitrinen mit Pokalen. Dazwischen Zeitungsartikel über die vielen erfolgreichen Absolventen. Die Laufschule – allgemein "Kipkeino Centre" genannt – wird jetzt vom Sohn des Olympiasiegers geleitet. Sein Konzept ist einfach:
"Laufen ist im Kopf. Wenn man gut laufen will, muss man sich im Kopf trainieren."
Ian Keino zieht ein Bein etwas nach – eine Sportlerkarriere kam für ihn nicht in Frage. Er lernte Hotelkaufmann in Frankfurt und arbeitete dort einige Jahre. Dann kam er zurück nach Kenia und baute das Zentrum auf. Läuferinnen und Läufer trainieren in Eldoret für Olympia und andere Wettbewerbe. Die meisten sind um die 20 Jahre alt. Wenn sie es schaffen wollen, brauchen sie doppelt Ausdauer.
"Das ist viel, viel Arbeit. Also die meisten, bis die in die Hochleistung kommen, es dauert mindestens zwei Jahre. Und das ist zwei Jahre sehr, sehr hart trainieren."
Als der Vater von Ian Keino seine Läuferkarriere startete, gab es noch keine Trainingszentren in Kenia. Er musste sich alles noch ganz allein erarbeiten. Einer der größten Erfolge von Kipchoge Keino war der Sieg im 1500-Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko. Er gewann, obwohl er es fast nicht rechtzeitig zum Start geschafft hätte:
"Fünf Kilometer vorm Stadion da war ein Stau. Und da ist er ausgestiegen vom Bus. Und gelaufen. Weil, er hätte sonst den Lauf verpasst. Und er hat dann die Goldmedaille gewonnen. Es war seine erste Goldmedaille"
Die Geschichte erzählt Ian Keino jungen Läufern immer wieder. Denn sie zeigt seiner Meinung, was wichtiger als alle Trainingskonzepte der Welt ist: Der unbedingte Wille zu laufen. Ist es vielleicht auch diese Einstellung, die Kenias Läufer zur Weltspitze macht? Bei so gut wie allen internationalen Laufwettbewerben dominieren auf den Mittel- und Langstrecken die Athleten aus dem kenianischen Hochland. Wunderläufer werden sie genannt. Doch was ist das Wunder?
"Welcome to Eldoret – Home of Champions” ist auf eine Mauer am Ortseingang gepinselt. Daneben sind die Helden der Region in Überlebensgröße gemalt. Eine lange Wand mit Olympiasiegern, Marathon-Läufern, Weltrekordlern. Die Stadt ist mit gut 100.000 Einwohnern immerhin die fünftgrößte in Kenia, sieht in weiten Teilen aber noch sehr dörflich aus. Kleine Läden mit bunt bemalten Fassaden. Frauen sitzen an den Straßen und verkaufen geröstete Maiskolben. Eldoret hat eigentlich wenig zu bieten – doch die Läuferlegenden haben die Stadt international bekannt gemacht. George Obumba ist der Sportbeauftragte:
"Annähernd 78 Prozent der Athleten in Kenia kommen aus dem Hochland. Hier sind die Trainingsbedingungen gut und die Läufer bekommen viel Unterstützung."
Das Hochland gilt zwar als der Brotkorb Kenias, weil der Mais auf den Feldern hier gut wächst. Aber reich wird durch die Landwirtschaft kaum jemand.
"Jeder sucht nach Wegen, um der Armut zu entkommen. Die Wirtschaft hier liegt am Boden. Die Kaufkraft ist niedrig."
Doch dann sind da die Läufer, die mit Preisgeldern von einer Million Dollar zurückkommen. Sie bauen schicke Häuser, fahren mit dicken Autos durch die Stadt.
"Du bist umgeben von erfolgreichen Athleten, die ein gutes Leben führen. Sie machen viel Geld. So eine Umgebung spornt viele an."
Anderswo träumen kleine Jungs davon, Fußballstars zu werden. Hier eifern sie nicht Cristiano Ronaldo, sondern Kipchoge Keino nach.
"Jedes Kind hier würde gern ein Athlet sein und Erfolg haben. Sie sehen, was für ein großer Wandel mit so einer Karriere kommt. Das wollen sie auch erreichen.".
Joseph läuft. So wie eigentlich immer. Der 12-Jährige ist meist schnell unterwegs:
"Ich renne auf dem Schulweg, ich gehe nicht."
Eine Stunde und zehn Minuten braucht er bis zur Schule. Wie viele Kilometer der Weg lang ist, weiß er nicht. An manchen Tagen läuft er ihn viermal – wenn er vor dem Nachmittagsunterricht noch mal nach Hause zurückkommt. Er absolviert so locker das Pensum eines engagierten Langstreckenläufers – wie so viele Kinder in Kenias Hochland, ganz nebenbei, auf dem Schulweg. Der Tag beginnt für Joseph früh:
"Um fünf Uhr morgens. Ich bereite das Frühstück vor und dann gehe ich um sechs zur Schule."
Der schmächtige Junge trägt jetzt Gummistiefel, eine quietschbunte Hose und einen alten Fliespulli. Das ist seine Nachmittags-Kleidung. Für die Schule hat er eine Uniform. Zu der gehört auch ein altes Paar Lederschuhe. Die Sohle hat sich teilweise abgelöst. Im rechten Schuh ist vorne ein Loch. Mit diesen Tretern macht Joseph täglich seine Kilometer.
Das Training zahlt sich aus: Bei Schulwettbewerben hat der 12-Jährige schon ein paar Mal gewonnen. Seine Lehrer machen ihm Mut, dass es mit der Läuferkarriere klappen könnte.
"Ich bin sehr froh, dass ich dieses Talent habe."
Der Traum der Kinder in Eldoret. Laufen, Geld verdienen, sich selbst und die Familie aus der Armut holen. Für einige wird dieser Traum wahr.
Mary Keitany öffnet das Tor vor ihrem Grundstück, um zum Training zu starten. Sie ist Marathonläuferin. Alle Strecken unter zehn Kilometern sind für sie leichtes Jogging.
Es geht einen Waldweg entlang. Morgens hatte es geregnet, doch jetzt ist die Sonne rausgekommen und die meisten Pfützen sind wieder verschwunden. In der Regenzeit zwischen April und Juni müssen die Läufer ihren Trainingsplan oft nach dem Wetter ausrichten. Wenn es auf Olympia zugeht, ist das nicht so optimal.
"Ich trainiere jetzt, um Gold für mein Land zu holen."
Mary Keitany hat in London schon häufiger gewonnen. In diesem Jahr und im Jahr davor war sie die schnellste beim Marathon.
"'"Natürlich mag ich London. Insgesamt war ich dreimal da und bin immer eine gute Zeit gelaufen. Und auch die Stadt ist sehr schön.""
Nach dem Training gibt es bei ihr ein Ritual.
Mary legt im Videorecorder die Kassette mit ihrem London-Sieg aus diesem Jahr ein.
Die vier nächsten, die ins Ziel liefen, waren ebenfalls Kenianerinnen. Bei den Männern gewann ein guter Bekannter von Mary, Wilson Kipsang, vor einem weiteren Landsmann. Ein Sieg auf der ganzen Linie. Auch deshalb spielt Mary das Video so oft:
"Ich gucke es einfach gern. Ich mag es, wie ich gelaufen bin. Und wie ich gewonnen habe."
Die Läuferin ist ein zartes Persönchen. Nicht mal 1,60 Meter groß und ein Fliegengewicht. Aber sie ist zäh. Als sie Schülerin war, sah sie die damals erfolgreichen kenianischen Läuferinnen. Auch sie war eins der Kinder, die von Medaillen träumen.
"Wenn ich ferngesehen habe oder eine Zeitung gelesen habe, tauchten da immer die berühmten Namen auf. Also habe ich angefangen zu trainieren, um eines Tages so wie sie zu sein."
Mary hat es geschafft. Mit ihren Preisgeldern konnte sie ein Haus bauen. In der Einfahrt steht ein neuer Geländewagen.
Gleichwohl laufen Hühner durch den Hof. Marys kleiner Sohn spielt barfuß mit seinem Cousin. Die Läuferin ist trotz der Erfolge auf dem Teppich geblieben. Glanz und Glamour sind nicht ihre Welt. Als ihr nach dem gewonnenen London-Marathon Prinz Harry die Medaille umhängte, hatte sie keine Ahnung, wer er ist:
""Ich wusste nicht, dass er der Prinz ist. Aber als ich das dann erfahren habe, war ich glücklich. Er hat auch meinem Sohn die Hand geschüttelt. Daran werde ich mich immer erinnern."
Die 30-Jährige ist mit einem Läufer-Kollegen verheiratet. Charles Koech hat selbst einiges gewonnen, bevor er wegen einer Verletzung seine Karriere aufgeben musste. Jetzt unterstützt er seine Frau. Und hofft natürlich auch auf eine Medaille für sie bei den Olympischen Spielen.
"'"Ich glaube, es ist schwer, eine Vorhersage für London zu treffen. Alle guten Läuferinnen werden da sein. Einige haben am London-Marathon nicht teilgenommen, weil sie sich schon auf Olympia vorbereitet haben. Wir wissen nicht, in welcher Form sie sind.""
Ob Mary ihren dreijährigen Sohn wieder mitnimmt, weiß sie noch nicht. Aber zur Sicherheit wird er auch vom Papa trainiert – damit er richtig anfeuern kann. "Twende London" – "Auf geht's nach London".
Beim letzten Zieleinlauf vor dem Buckingham Palast hat der Kleine fleißig gejubelt und geklatscht. Bald könnte er seine Mama auch bei Olympia zum Sieg tragen.
Eine Familie, die Rückhalt gibt. Der Traum vom Siegen von Kindesbeinen an. So einfach kann das Geheimnis der kenianischen Wunderläufer nicht sein. Die Spurensuche geht im Kipkeino Zentrum weiter.
Zum Essen kommt hier Ugali, der typisch kenianische Maisbrei auf den Tisch. Dazu Fleisch und ein wenig Gemüse. Morgens gibt es süßen Tee, Weißbrot und Marmelade. Manche würde das sogar als ungesunde Ernährung bezeichnen. Aber die beiden Trainer hier finden: Ugali ist wirksamer als Doping.
"Manche Sportler kommen hierher und fragen nach Präparaten. Aber wir setzen so etwas überhaupt nicht ein. Alles, was die Athleten brauchen, bekommen sie mit dem Essen. Ugali, Gemüse, Reis, Nudeln – was sie wollen."
Jimmy Simba Beauttah hat einen Namen in der internationalen Laufszene. Er hat viele Olympiasieger an den Start gebracht. Dabei hält er nichts von modernen Trainingsmethoden. Von Laufbändern und Pulsuhren. Simba, wie er genannt wird, braucht nichts als eine Trillerpfeife und eine Stoppuhr. Die Athleten sollen im Gelände rennen und sich dabei nur auf ihren eigenen Rhythmus konzentrieren:
"Alles ganz natürlich. Wir haben die Straßen. Wir haben Abhänge und wir haben Steigungen. Was wollen wir mehr? Und du hast deinen Körper."
Sein Kollege Joseph Ngure sieht das ähnlich. Die beiden Trainer sind für die jungen Läufer oft noch Elternersatz. Sie holen sie wieder auf den Boden zurück, wenn sie nach ersten Erfolgen abzuheben drohen. Denn für einige gute Athleten war die Läuferkarriere ein Irrweg, meint Joseph:
"Manche verdienen wenig, sichern sich aber trotzdem ein gutes Auskommen, weil sie klug investieren. Andere machen das große Geld, aber sie landen wieder ganz unten. Es hängt davon ab, was sie selbst daraus machen."
Wenn einer das Geheimnis der Wunderläufer kennen müsste, dann diese beiden Erfolgstrainer. Doch über die Frage danach können sie nur lachen.
"Es gibt kein Geheimnis. Man muss früh anfangen. Sich Ziele setzen und trainieren. Das Wichtigste aber ist der Wille: Wenn man den hat, kann der Körper nachziehen."
Laufen passiert im Kopf. Aber um das Training kommen die Athleten trotzdem nicht herum.
Simba und Jonathan Ngure scheuchen ihre Zöglinge wieder durchs Gelände. Ein Ähnliches Programm wie am Vortag.
"'"Heute starten wir von hier zu unserem langen Lauf. Die Gruppe läuft Richtung Norden – bis die Zeit, die ich ihnen vorgebe, vorbei ist. Sie bleiben alle zusammen, auch wenn sie für unterschiedliche Distanzen trainieren. Anschließend gebe ich ihnen dann noch ein paar Übungen.""
Eins der vielversprechenden Talente heißt Hillary Maiyo. Er ist 18 Jahre alt und amtierender Afrika Junior Champion über 1500 Meter:
"Mein großer Traum ist, dass ich eines Tages bei Olympia gewinne. Wenn nicht über 1500 Meter, dann vielleicht über 5000. Oder ich laufe sogar Marathon. Ich will unter den Top-Athleten sein."
In diesem Jahr ist er noch nicht bei Olympia dabei. Aber vielleicht ja 2016.
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Mein Olympiafavorit für London 2012 - Korrespondenten stellen außergewöhnliche Sportler vor, (DKultur, Ortszeit)
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